Byrne & Balzano 1: Crucifix
Gläschen mit Bekannten in der Eckkneipe trinkst. Sie beobachten dich, wenn du deine Frau liebst. Sie beobachten und warten und stellen Fragen. Was tust du für mich? , flüstern sie dir leise ins Ohr, während du dein Leben lebst, deine Kinder heranwachsen, während du lachst und weinst und fühlst und glaubst. Warum genießt du dein Leben?, fragen sie. Warum führst du ein schönes Leben, während ich hier auf dem kalten Marmor liege?
Was tust du für mich?
Byrnes Aufklärungsrate war die höchste in der Abteilung. Die Gründe dafür waren zum einen die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit Jimmy Purify, zum anderen die Wachträume, die eingesetzt hatten, nachdem Byrne sich vier Kugeln von Luther White eingefangen hatte und in den Delaware River gestürzt war.
Es liegt in der Natur eines Killers, der seine Morde detailliert plant, dass er sich den meisten anderen Menschen überlegen fühlt – vor allem den Menschen, deren Job darin besteht, ihn zu finden. Es war dieser Egoismus, der Kevin Byrne antrieb. Und in diesem Fall, dem Fall des Rosenkranz-Killers, wurde es zur Obsession. Das wusste er. Er hatte es schon in dem Augenblick gewusst, als er die morsche Treppe in der North Eighth Street hinunterstieg und die brutale Verstümmelung sah, die Tessa Wells zugefügt worden war.
Er wusste jedoch auch, dass es ebenso sein Pflichtbewusstsein wie auch das Entsetzen vor Morris Blanchards Selbstmord war. Früher in seiner Karriere hatte er sich häufiger geirrt, doch niemals hatte es zum Tod eines Unschuldigen geführt. Byrne wusste nicht, ob die Verhaftung und Verurteilung des Rosenkranz-Killers seine Schuld begleichen oder ob es ihn mit der Stadt Philadelphia versöhnen würde, aber er hoffte, es würde wenigstens die Leere in seinem Innern ausfüllen.
Und dann könnte er mit hoch erhobenem Kopf aus dem Polizeidienst ausscheiden.
Einige Detectives folgten dem Geld. Einige der Wissenschaft. Einige den Motiven. Kevin Byrne vertraute der Tür am Ende seines Geistes. Nein, er konnte weder die Zukunft vorhersagen noch die Identität eines Killers durch Handauflegen erraten. Aber manchmal schien es ihm, als könnte er es doch. Und vielleicht machte das den Unterschied. Die winzige Nuance, die erkannte Intention, der gewählte Weg, die durchschauten Zusammenhänge. Byrne hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren, seitdem er fast ertrunken wäre, nur ein einziges Mal geirrt.
Er brauchte Schlaf. Byrne bezahlte seine Zeche, verabschiedete sich von ein paar Stammgästen und trat hinaus in den strömenden Regen. Gray’s Ferry roch sauber. Er knöpfte seinen Regenmantel zu und fragte sich, ob er nach den fünf Bourbons noch ans Steuer sollte. Er hielt sich für fit. Mehr oder weniger.
Als er auf seinen Wagen zusteuerte, spürte er, dass etwas nicht stimmte, wusste im ersten Moment aber nicht, was es war.
Dann erkannte er es.
Das Fenster auf der Fahrerseite war eingeschlagen; auf dem Fahrersitz funkelten Glasscherben. Byrne warf einen Blick ins Wageninnere. Der CD-Player und die CDs waren verschwunden.
»Scheiße«, rief er. »Diese verdammte Stadt!«
Er ging mehrmals um den Wagen herum, einen kläffenden Köter auf den Fersen, und setzte sich dann auf die Motorhaube. Den Diebstahl zu melden hatte keinen Sinn. Die Chance, einen gestohlenen CD-Player in Gray’s Ferry zu finden, war nicht viel größer als Michael Jacksons Aussichten, einen Job in einer Kindertagesstätte zu bekommen.
Den Diebstahl des CD-Players konnte er verschmerzen, doch es war schade um die Sammlung ausgewählter klassischer Blues-Titel, jammerschade. Drei Jahre hatte er gebraucht, um sie zusammenzustellen.
Er wollte gerade gehen, als er bemerkte, dass ihn jemand von dem unbebauten Grundstück auf der anderen Straßenseite beobachtete. Byrne konnte nicht sehen, wer es war, aber die Körperhaltung des Fremden drückte alles aus, was er wissen musste.
»He!«, rief Byrne.
Der Mann lief los und verschwand hinter den Häusern auf der anderen Straßenseite.
Byrne nahm die Verfolgung auf.
Die Glock in seiner Hand war wie eine schwere Last.
Als Byrne die Straße überquert hatte, war der Mann im strömenden Regen untergetaucht. Byrne rannte über das mit Trümmern übersäte Brachland und zu der Gasse hinauf, die hinter den Reihenhäusern verlief.
Er konnte den Dieb nicht sehen.
Wo war er abgeblieben?
Byrne steckte die Glock in den Halfter, näherte sich vorsichtig der Gasse und spähte nach links.
Sackgasse. Ein Abfallcontainer, ein Haufen
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