Charlotte
naiv: »Du kannst ruhig zum Essen bleiben, Charlotte.«
»Fangt ihr schon mal an«, sagte Runing.
Lily winkte Charlotte aufmunternd zu und ging ins Haus. Charlotte stand noch immer unsicher neben ihrem Stuhl.
»Setz dich einen Augenblick«, sagte Runing.
Das Mädchen gehorchte und schaute ihn abwartend an. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. »Deine Mutter hat einige Jahre lang für uns gearbeitet. Sie war meine Sekretärin«, begann er. »Aber das ist schon lange her. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.«
Lange her, dachte er. Ungefähr so lange, wie sie auf der Welt ist.
»Sie ist tot«, sagte Charlotte.
»Oh. Das tut mir Leid. Und warum …?«
Charlotte schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab, bückte sich zu der olivgrünen Umhängetasche, die neben ihrem Stuhl auf den Terrassenfliesen stand, und nahm sie auf ihren Schoß. Sie klappte den Segeltuchüberschlag zurück und zog ein ziemlich mitgenommenes Schriftstück heraus. »Nach der Beerdigung hat Leonoor mir das hier ausgehändigt.«
»Wer ist Leonoor?«, fragte er.
»Meine andere Mutter.«
»Oh«, machte Runing wieder.
Er nahm das Schriftstück. Es war ein Auszug aus dem Melderegister, ein internationales Formular, per Computer ausgefüllt. Charlotte Elisabeth Leonora Bonnette war am 24. Mai 1984 in Utrecht geboren worden. Sofort fiel sein Blick auf seinen eigenen Namen in der unteren Hälfte des Formulars, unter vader, père, Vater, father, padre, pai, baba, otac und dem Wort in unlesbarer griechischer Schrift, neben dem Namen der Mutter: Bonnette, Elisabeth.
Er faltete das Schriftstück zusammen, gab es ihr zurück und fragte sich, warum diese Bombe mitten in seinem Familienkreis hatte platzen müssen und nicht an einem Ort, an dem er sie vielleicht vor der Explosion hätte entschärfen können. »Und was hat Leonoor dazu gesagt?«
»Dass Sie es vielleicht vergessen hätten.«
Vielleicht glaubte sie tatsächlich, dass ein Vater sein – wenn auch außereheliches – Kind vergessen könnte. Runing blickte in ihr unerfahrenes Gesicht und begriff, dass sie unschuldig war und er sie nicht beleidigen oder verletzen konnte, ohne das Gefühl zu haben, ein wehrloses Tier zu misshandeln. »Vielleicht könnten wir uns irgendwo anders treffen«, schlug er vor. »Der Zeitpunkt ist ein wenig unglücklich.«
»Das wäre er immer gewesen«, erwiderte Charlotte.
»Stimmt.«
Das Mädchen verließ das Haus außen herum. Sie hatte es selbst so vorgeschlagen, um, wie sie mit einem schüchternen Lächeln bemerkte, die Aufregung in Grenzen zu halten. Die Situation belastete ihn stärker als das Mädchen selbst, sodass er zu fragen vergaß, wie sie hierher gekommen war und ob sie zum Bahnhof oder zum Bus gebracht werden wollte. Er ging hinein und unter dem breiten Bogen hindurch ins Esszimmer.
Es war für fünf Personen gedeckt, aber nur seine beiden Töchter saßen an dem großen Tisch, und Gwenaëlle wartete wie gewöhnlich diskret neben dem großen Büfett an der Tür, bis ihr jemand sagen würde, dass niemand mehr etwas brauchte. Gwenaëlle war die Tochter eines bretonischen Fischers. Sie wohnte mit dem Gärtner und ihrer kleinen Tochter in einem Bungalow im hinteren Teil des Grundstücks. Bevor sie Theun kennen gelernt hatte, war sie drei Jahre lang bei französischen Landadeligen in Stellung gewesen und hatte von dort die Manieren eines Butlers und Worte wie convert und déjeuner mitgebracht.
»Danke, Gwen«, sagte Runing. Die junge Frau nahm das leere Tablett und ging.
Runing blieb hinter seinem Stuhl am Kopfende stehen. »Ist Heleen noch oben?« Nur als die Kinder noch klein waren, hatte er als Zugeständnis an ihr Alter seine Frau als »Mama« bezeichnet und dies stets lächerlich gefunden. Jennifer war mit achtzehn dazu übergegangen, ihre Mutter mit dem Vornamen anzureden, Lily musste sich noch daran gewöhnen.
»Sie hat keinen Hunger«, sagte Jennifer.
Ich muss zu ihr, dachte Runing. Erklären, richtigstellen, den Schaden begrenzen.
»Ist Charlotte weg?«, fragte Lily.
»Ich hoffe, ihr seid nicht allzu erschrocken«, sagte er.
»Warum hast du uns nicht früher von ihr erzählt?«
Jennifers klare herbstbraune Augen schienen von Natur aus jeder Herausforderung gewachsen und jetzt funkelten sie obendrein angriffslustig. Sie ähnelte Runings Mutter, die Otto van Rees einmal porträtiert hatte. Auch den impulsiven Charakter ihrer Großmutter hatte Jennifer geerbt, gepaart mit dem kompromisslosen Gefühl für Gerechtigkeit, das
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