Schicksalsfäden
Kapitel 1
Im ersten Augenblick, als Grant Morgan die Frau sah, wusste er, sie würde trotz ihrer Schönheit niemals zum Altar geführt werden.
Er folgte dem Fährmann durch die kalten, feuchten Nebelschwaden, die sich auf seiner Haut niederschlugen und Tropfen an seinem Wollmantel bildeten. Seine Hände waren tief in den Taschen vergraben, sein Blick wanderte rastlos umher. Im trüben Licht der Laternen am Landungssteg erschien der Fluss ölig. Zwei oder drei kleine Boote, die Passagiere vom einen Ufer zum anderen brachten, tanzten wie Spielzeuge auf den Fluten der Themse. Kalte Wellen schwappten gegen die steinernen Treppen und Mauern des Kais. Ein winterlicher Märzwind schlug Grant ins Gesicht und kroch immer wieder in seinen Kragen. Er unterdrückte ein Schaudern und starrte auf den schmutzigen, schwarzen Fluss. In diesem eisigen Wasser konnte niemand länger als wenige Minuten überleben.
»Wo ist die Leiche jetzt?« Grants Augenbraue zuckte ungeduldig. Er griff nach der Uhr in seiner Manteltasche.
»Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
Der Fährmann wäre fast gestolpert, als er sich im Gehen nach Grant umblickte. Um in dem wabernden, gelblich-grauen Nebel besser sehen zu können, kniff er die Augen zusammen. »Sie sind Morgan, stimmt’s? Mr. Morgan höchstpersönlich, der Beschützer des Königs. Das glaubt mir niemand, wenn ich’s erzähle … Hätte nie gedacht, dass Sie sich mit so was die Finger schmutzig machen müssen.«
»Leider ja«, murmelte Grant.
»Hier entlang, Sir. Und passen Sie auf, wo Sie hintreten. Die Stufen hier sind scheußlich glatt, wenn’s so neblig ist.«
Grants Gesicht verhärtete sich, als er zu der schmalen Gestalt hinabstieg, die an die Ufertreppe gespült worden war.
Als Runner hatte er schon viele Leichen gesehen, aber Wasserleichen waren immer ein besonders unerfreulicher Anblick. Diese war unschwer als Frau zu erkennen, obwohl sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag. Wie eine von einem lustlosen Kind hingeworfene Lumpenpuppe lag sie da, die Glieder von sich gestreckt den Rock als nassen Klumpen zwischen ihren Beinen.
Grant kniete neben der Leiche nieder und wollte gerade mit seiner behandschuhten Hand nach der Schulter der toten Frau greifen, um sie umzudrehen, als diese sich plötzlich aufbäumte und von Hustenkrämpfen geschüttelte wurde.
Grant erstarrte.
Der Fährmann hinter ihm stieß vor Schreck einen Schrei aus. »Ich dachte, sie sei tot!« Seine Stimme zitterte. »Ich schwöre bei Gott, die war mausetot!«
»Idiot!«, schimpfte Grant. Wie lange mochte die arme Frau schon im eiskalten Wasser gelegen haben, während der Fährmann einen Boten zum Bow-Street-Revier geschickt hatte? Wäre ihr gleich geholfen worden, hätte sie jetzt bessere Überlebenschancen. Denn dass es ihr nicht gut ging, sah Grant als er sie umdrehte und ihren Kopf mit dem langen triefenden Haar auf sein Knie legte: Ihre Haut war aschfahl und über dem Ohr hatte sie eine große Schwellung. Doch trotz ihres Zustands erkannte Grant die edlen Gesichtszüge und die anmutige Gestalt sofort wieder.
»O mein Gott«, stöhnte Grant. Er war sonst nur schwer zu überraschen, aber dass er ausgerechnet Vivien Rose Duvall in so einer Lage vorfand, war einfach unfassbar.
Ihre Augen waren nur halb geöffnet ihr Blick starr von der Gewissheit des nahen Todes. Doch Vivien war keine Frau, die sich kampflos ergab. Sie wimmerte, streckte die Hände aus und berührte dabei Grants Jacke. Der erwachte aus seiner Erstarrung, legte die Arme um sie und hievte sie hoch. Sie war von kleiner, kompakter Statur, aber ihr wassertriefendes Kleid verdoppelte nahezu ihr Gewicht. Grant hielt sie an seine Brust gepresst, ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle, als das kalte Wasser seine Jacke und Weste durchdrang.
»Bringen Sie sie in die Bow Street Mr. Morgan? Ich sollte sie vielleicht begleiten und Sir Ross meinen Namen hinterlassen«, schwätzte der Fährmann eifrig, als wolle er mit Grant Schritt halten, der zwei Stufen auf einmal nahm. »Da ist mir doch jemand was schuldig, denk ich, weil ich doch die Lady gefunden habe, bevor sie tot war, und ein Dank wär mir schon Lohn genug, aber vielleicht ist auch eine Belohnung …«
»Geh und such Dr. Jacob Linley«, unterbrach Grant den Mann streng. »Um diese Zeit ist er häufig in Toms Kaffeehaus. Sag ihm, er soll so schnell wie möglich zu mir in die King Street kommen. Los doch!«
»Ich kann nicht!«, protestierte der Fährmann. »Ich habe zu tun und heute
Weitere Kostenlose Bücher