Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Stories 16, 6–17, 2 in drei Teilen (Februar, März und April 1936), genau ein Jahr vor Lovecrafts frühem Tod.
Blicken wir noch auf einige Details des Romans. Lovecraft hat es geliebt, seine Texte nicht nur mit seinen eigenen Erzählungen, sondern auch mit denen der großen Klassiker unheimlicher Literatur vielfach zu verzahnen. Den Namen des Ich-Erzählers unseres Romans, William Dyer, erfahren wir zum Beispiel nur aus ›The Shadow Out of Time‹. Wir sind dem zweiten Stilmittel schon in ›The Dunwich Horror‹ begegnet, wo es vor allem um direkte und explizite Berührungen mit Arthur Machen ging. In ›At the Mountain of Madness‹ ist es nun Edgar Allan Poe (1809–1849), dessen melancholisches, visionäres Angesicht immer wieder zwischen den Zeilen hindurchscheint. Lovecraft hatte Poe schon als Kind gelesen und ihn seitdem für Amerikas bedeutendsten Autor gehalten, wobei man nicht nur an die Kurzgeschichten denken darf, sondern vor allem an die Lyrik und in geringerem Maße auch an Poes zahlreiche in Deutschland nur wenig bekannte Essays. In einem Brief an Bernard Austin Dwyer vom 3. März 1927, in dem er viel über seine frühen kindlichen Interessen mitteilt, schreibt Lovecraft: »Dann traf mich wie ein Blitz EDGAR ALLAN POE! Das war mein Absturz, und im Alter von acht Jahren sah ich, wie sich das blaue Firmament von Argos und Sizilien durch die miasmatischen Ausdünstungen des Grabes verdunkelte!«
Im gleichen Jahr (1898) versuchte Lovecraft bereits, Poes Prosastil nachzuahmen, nachdem er zuvor ganz in einer Welt klassischer englischer Lyrik und arabischer und antiker Folklore und Mythologie gelebt hatte. Edgar Allan Poe und Alexander Pope blieben die beiden von Lovecraft am meisten verehrten Schriftsteller, obwohl zeitweise der Einfluss Dunsanys auf sein tatsächliches Werk größer war. In ›At the Mountains of Madness‹ wird Poe eine unübertroffene, wenn auch durchaus dezente Reverenz erwiesen. Lovecraft ist kein Anfänger mehr und er ahmt nicht mehr nach. Aber er erlaubt sich Anspielungen, intertextuelle Referenzen, die den Leser mit hineinnehmen in die gleiche literarische Binnenwelt, in der auch Lovecraft selbst gelebt hat. Schon zu Beginn, anlässlich der ersten Schilderung der antarktischen Berge, kommen den Betrachtern der Miskatonic-Expedition Poes Zeilen über den Berg Yaanek in den Sinn, wie sie sich in dem Gedicht ›Ulalume‹ von 1847 finden, das Poe aus einer Grundidee von Elizabeth Oakes Smith heraus entwickelt hatte. Dass Poes Berg »Yaanek« tatsächlich Mount Erebus sein muss, wie Lovecraft argumentiert, ist ganz richtig; in der Arktis waren zu Poes Lebzeiten keine Vulkane bekannt, während Mount Erebus 1840 entdeckt worden war. Poe hatte sich ja wie Lovecraft brennend für die Erforschung der Antarktis interessiert. Wie Poe auf den Namen »Yaanek« kommt, ist bis heute nicht bekannt; immerhin wird Lovecraft in der wissenschaftlichen Poe-Literatur als Entdecker der wahren Identität des Berges aufgeführt, etwa in dem zur Zeit umfassendsten Kommentar zu Poes Gedichten von Thomas Ollive Mabbott. Mehrfach wird Poes Roman Arthur Gordon Pym (Lovecraft kürzt den Buchtitel ab) genannt, sodass ›At the Mountains of Madness‹ nicht nur zu einem Prätext, sondern in gewisser Hinsicht zu einer Hommage, ja fast zu einer Art Fortführung von Poes Roman wird. An eine eigentliche Fortsetzung der Handlung – wie sie Jules Verne in Le Sphinx des Glaces (zuerst: Magasin d’Education et de Récreation , 1. Januar – 15. Dezember 1897) versucht hatte – ist aber nicht zu denken. Vor allem ist es das rätselhafte »Tekeli-li!«, das bei Lovecraft zum Fragment einer verschollenen Sprache wird, zu einem letzten Nachhall der Pfeiftöne, welche die Alten Wesen von sich gaben, nachgeäfft von denen, die erst ihre Sklaven waren und dann ihr Untergang wurden. (Tatsächlich ist »Tekeli; or The Siege of Montgatz« der Name eines Theaterstückes, in dem Poes Mutter Eliza Poe öfters auftrat, aber das wird Lovecraft vielleicht gar nicht gewusst haben). Diese Art, einzelne Bausteine aus Poe zu verfremden, hat einen besonderen ästhetischen Reiz, zumal Lovecraft Poe noch einmal mystifiziert, indem suggeriert wird, dieser habe Zugang zu einer besonderen, okkulten Quelle über die Antarktis gehabt. Poe ist mit den Worten »Reynolds! Reynolds! Lord help my poor Soul« auf den Lippen am 7. Oktober 1849 gestorben, aber ob er damit wirklich den berühmten Antarktis-Forscher Jeremiah N. Reynolds (1799–1858)
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