Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Vorwort
Mit Band II unserer Sammlung der »Cthulhu-Mythos«-Geschichten des amerikanischen Meisters unheimlicher Literatur H. P. Lovecraft (1890–1937) erreichen wir den Höhepunkt seines literarischen Schaffens, mit vielen jener Erzählungen, die den literarischen Ruhm des Schriftstellers bis heute lebendig erhalten haben. Lovecraft weiß jetzt, was er sagen will, und wie er es sagen will. Er hat die Edgar Allan Poe- und Lord Dunsany-Imitationen seiner Jugend überwunden und seine eigene Sprache gefunden. Mit einer Mischung aus Präzision, evokativer und visionärer Vorstellungskraft, einem sicheren Blick für das Erschreckende und Unheimliche, das Fantastische und Imaginative, schafft er Erzählungen, die längst zu Klassikern der modernen amerikanischen Literatur geworden sind.
In einem deutschsprachigen Kontext muss dieser amerikanische Hintergrund mitgehört werden, um Lovecraft nicht zu karikieren. Lovecraft starb nach einem Leben, das er bis auf zwei Jahre in New York in seinem heimischen Providence, Rhode Island zugebracht hatte, einer alten Hafenstadt mit einem für die USA sehr ausgeprägten Geschichtsbewusstsein. Ein Einsiedler war er entgegen früher Legende keineswegs; er hatte eine Familie, ein soziales Umfeld und zahlreiche Freunde, auch wenn er mit vielen nur Briefkontakt pflegen konnte – aber mehr aus finanziellen als anderen Gründen. Einige Zeit lang war er verheiratet und er wollte durchaus als Autor bekannt sein und gelesen werden.
Sein Leben lang war er bestrebt, als distinguierter Gentleman britischer Abstammung wahrgenommen zu werden, zu dessen breiten Interessen eben auch das Grausige, das Monströse und Abgründige gehörten – neben Literatur und den Naturwissenschaften, Geschichte und Mythologie, Architektur und Astronomie. Dieses Leben eines unabhängigen Gentlemans hat er in gewissem Maße tatsächlich geführt – um den Preis äußerer Armut und radikaler Hingabe an seine schriftstellerische Arbeit. An die Stelle eines bürgerlichen Brotberufs tritt ein Leben der entfesselten Vorstellungskraft. Seine Fantasie destilliert aus seinem geliebten Neuengland das Unheimliche und Monströse heraus und gestaltet es zu Erzählungen von fiebriger Intensität, die sich mit einer erstaunlichen Präzision der Visualisierung verbindet. Dabei hat er immer genau jene Geschichten geschrieben, die er schreiben wollte: Kompromisse gegenüber einem wie auch immer beschaffenen Publikumsgeschmack waren ihm ein Abscheu. Daher ist sein Erzählen immer in hohem Maße authentisch und bei aller Kuriosität der Themen und manchen literarischen Insider-Jokes doch keineswegs ein austauschbares literarisches Spiel. Lovecrafts Imagination stellt sich großen Themen (der Mensch im Kosmos, der Verfall der Zivilisation, Identitätsdiffusion und Identitätssuche), auch wenn dies im überraschenden Medium der Horrorgeschichte geschieht. Er hat dezidiert eine eigen Philosophie und Ästhetik und will auch als zivilisationskritischer Denker gehört werden, auch wenn er diese Gedanken in die Geschichte nichtmenschlicher Kulturen verpackt.
Die ungeheure Vorstellungskraft seiner Prosa wirkt unmittelbar bis heute, aber viele soziale, kulturelle und wissenschaftliche Rahmenbedingungen seiner Texte haben sich stärker verändert, als es dem deutschen Leser vielleicht auf Anhieb bewusst wird. Die Freude am Lesen der folgenden Texte, die schiere Faszination angesichts der Fremdheit der lovecraftschen Welten hängt ganz wesentlich davon ab, sich auf das neuenglische bzw. amerikanische Ambiente der 1920er, 1930er Jahre einzulassen. Es hilft, sich auf einer Karte und alten Bildern ein Gefühl für dieses Ambiente zu verschaffen. Lovecrafts Erzählungen leben ja gerade aus einem Kontrast zwischen der präzisen Schilderung des realen Neuengland und dem suggestiven Einbruch des Fremden, des ganz Anderen, des Monströsen.
Sind Lovecrafts Mythosgeschichten aber nicht einfach doch nur »Monsterstories«? Nun, ein Monster mündet immer dann nach einiger Zeit in narrative Langeweile, wenn seine einzige Bedeutung die Bedrohung unserer physischen Existenz ist. Lovecrafts fremde Wesen sind von ganz anderer Art. Ihre Bedrohlichkeit ist nicht einfach eine »Gefährlichkeit«. Lovecrafts Aliens greifen nach unserer Identität: Und das macht ihre Faszination und ihr Grauen aus. Sie tun dies in zweifacher Weise: Einmal, indem sie die Geschichte der Menschheit auf der Erde zu einer Episode zusammenschrumpfen lassen. Lovecrafts monströse Wesen
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