Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Menschheitsgeschichte zu einer bloßen Episode zusammenschrumpft. Natürlich ist es eine verfremdete Erdgeschichte, in der unerwartete Schrecken lauern, aber sie wird eng an alles angebunden, was zu Lovecrafts Lebzeiten über die tatsächliche geologische und paläontologische Geschichte der Erde bekannt war. Die Horrormotive früherer Erzählungen sind hier in einen Science Fiction-Rahmen integriert; dazu später.
Lovecraft hatte sich schon ab etwa 1900 intensiv für die Antarktis interessiert und war über den jeweils letzten Stand ihrer Erschließung immer bestens im Bilde. 1899 hatte der Norweger Carsten Egebert Borchgrevink als erster ein dauerhaftes Lager auf antarktischem Festland errichtet; 1901–1904 folgten dann die deutsche »Gauß-Expedition« und die britische »Discovery-Expedition« (mit R. F. Scott). Am 14.12.1911 und am 18.1.1912 hatten dann Roald Amundsen und Robert F. Scott den Südpol erreicht. Lovecraft füllte Anfang des Jahrhunderts diverse Schulhefte mit Nacherzählungen der großen Antarktisexpeditionen des 19. Jahrhunderts. Das Erreichen des Südpols war dabei eine Leidenschaft, die ihre Wurzeln noch im 18. Jahrhundert hatte (Captain James Cook war daran 1772–74 gescheitert), und Engländer und Amerikaner haben später gleichermaßen um dieses Ziel gekämpft. Eine Kenntnis der großen Expeditionen (Charles Wilkes, James Clark Ross, Robert F. Scott etc.) setzt Lovecraft bei seinen Lesern als selbstverständlich voraus. 1928–1930 waren die Jahre der ersten Antarktisexpedition von Richard Evelyn Byrd (1888–1957), der durch seinen Nordpolarflug 1926 bereits weltberühmt geworden war; es folgten in späteren Jahren weitere Antarktisexpeditionen. Vielleicht war diese Expedition der unmittelbare Auslöser der Erzählung Lovecrafts (in der ja wie bei Byrd Flugzeuge eine große Rolle spielen).
Es ist nicht unwichtig, dass ›At the Mountains of Madness‹ eine Expedition schildert: Ausführlich werden Vorbereitung, Finanzierung, wissenschaftliche Organisation, technische Ausrüstung, Zusammensetzung des Mannschaft etc. berichtet. Lovecraft hatte ganz offensichtlich alles gelesen, was er über solche Themen in die Finger bekommen konnte. (Ähnlich steht in seiner Kurzgeschichte ›Facts Concerning the Late Arthur Jermyn and His Family‹ von 1920 eine Afrikaexpedition – wenn auch des 18. Jahrhunderts – mit grausigen Konsequenzen im Hintergrund, aber Lovecrafts Leidenschaft für Details war seit diesem frühen Text noch enorm gewachsen).
Die Forschungsreise wird zur Metapher des suchenden, fragenden, die Vergangenheit durchforstenden Geistes in seiner Konfrontation mit dem Unbekannten. Sicher drückt sich darin auch Lovecrafts Sehnsucht aus, doch einmal Teil eines akademischen Establishments zu sein, das solche Expeditionen ausführen kann – ein Wunsch, der durch sein Unvermögen, eine Collegeausbildung zu absolvieren, unmöglich gemacht wurde; Lovecraft bewegte sich aber Zeit seines Lebens im Umfeld der Brown University, besuchte zahlreiche ihrer öffentlichen Vorträge und lebte zuletzt in einem Haus als Mieter, das der Universität gehörte, nur wenige Schritte von ihren Bibliotheken entfernt. Man kann diese Suche auch als eine Art Bewusstseinserweiterung verstehen, natürlich nicht in einem esoterischen Sinn, bei dem es um Lebensgewinn geht, sondern gerade umgekehrt im verstörenden Sinn der unheimlichen Fantastik, die den Menschen aus seinen gewohnten Bahnen herausreißt. Diese Suche beginnt für den Erzähler William Dyer nicht erst in der Antarktis: Das Necronomicon ist ihm nicht fremd.
›At the Mountains of Madness‹ gewinnt aus den symbolischen Tiefendimensionen der Landschaft und der Expedition auch menschliche Qualität und Größe: Hier ist von Gelehrten die Rede, die wirklich wissen wollen, deren Leben sich ganz um ein solches Wissenwollen dreht. Lake und Atwood nehmen dabei ein böses Ende, der Student Danforth wird verrückt, und der Erzähler William Dyer (die volle Namensform nur in der Novelle ›The Shadow Out of Time‹) bleibt auch seelisch nicht unbeschädigt. Das ist die Wirkung wahren Wissens in Lovecrafts Universum. Man beachte auch, dass Lovecraft sich durchaus recht gut in die praktischen Schwierigkeiten der Arbeit in einem Expeditionsteam hineindenken konnte; der Realismus der Erzählung ist in dieser Hinsicht erstaunlich. Aber natürlich steht im Hintergrund immer einer weitere und größere Suche. Der suchende Geist findet in der Vergangenheit nicht nur
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