Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
... wessen Tochter bin ich dann?«
»Du solltest dich mit dieser Frage nicht belasten. Gewiss wäre es wundervoll, wenn wir alle genau wüssten, wer wir sind. Aber dieses Wissen erlangt man nicht von außen, es kommt von innen. ›Erkenne dich selbst‹, wie das Orakel zu sagen pflegt.« Jem grinste. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, falls dies nach Haarspalterei klingen sollte, doch ich berichte dir nur das, was ich aus eigener Erfahrung gelernt habe.«
»Aber ich kenne mich nun mal nicht selbst!«, erwiderte Tessa und fügte dann kopfschüttelnd hinzu: »Entschuldige bitte. So wie du bei de Quincey gekämpft hast, musst du mich für einen schrecklichen Feigling halten: Da stehe ich hier und jammere, weil mein Bruder kein Monstrum ist und ich nicht den Mut habe, ganz allein ein Monstrum zu sein.«
»Du bist kein Monstrum«, widersprach Jem. »Und auch kein Feigling. Ganz im Gegenteil: Ich war ziemlich beeindruckt, als du auf de Quincey geschossen hast. Wenn mehr Kugeln in der Pistole gewesen wären, hättest du ihn zweifellos getötet.«
»Ja, das denke ich auch. In diesem Moment wollte ich jeden Einzelnen der Vampire töten.«
»Genau dazu hatte Camille uns aufgefordert. Sie alle zu töten. Vielleicht hast du ja ihre Gefühlsregungen empfunden?«
»Aber Camille hatte doch gar keinen Grund, sich um Nate zu sorgen oder Angst um sein Leben zu haben - und das war genau der Moment, in dem ich die größte Blutrunst verspürte. Als ich Nate dort kauern sah ... als mir bewusst wurde, was sie ihm antun wollten ...« Tessa holte schaudernd Luft. »Ich weiß nicht, wie viel davon meine eigenen Gefühle waren und wie viel von Camille stammte. Und ich weiß nicht einmal, ob es richtig ist, diese Sorte von Gefühlen zu empfinden . .«
»Du meinst, ob es für ein Mädchen richtig ist, so zu empfinden?«, fragte Jem.
»Nein, eher generell, für jeden, vielleicht ... ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht meine ich ja doch für ein Mädchen.«
In dem Moment blickte Jem sie an und schien dabei durch sie hindurchzuschauen, als würde er etwas hinter ihr sehen, jenseits des Flurs, jenseits der Institutsmauern. »Ganz gleich, wie das äußere Erscheinungsbild eines Menschen ist«, sagte er gedehnt, »ob du männlich oder weiblich, stark oder schwach, krank oder gesund bist - all diese Dinge sind von geringerer Bedeutung als das, was dein Herz enthält. Wenn du das Herz eines Kriegers hast, dann bist du auch ein Krieger. Alle anderen Dinge sind nur wie das Glas einer Lampe, aber du bist das Licht, das darin scheint«, erklärte er versonnen, schien sich dann wieder zu fangen und lächelte leicht verlegen. »Das glaube ich zumindest.«
Ehe Tessa etwas erwidern konnte, wurde die Tür von Nates Zimmer geöffnet und Charlotte kam heraus. Sie beantwortete Tessas fragenden Blick mit einem erschöpften Nicken. »Bruder Enoch hat deinem Bruder schon sehr helfen können«, sagte sie, »aber es müssen noch eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen werden und vor morgen früh lässt sich nichts Definitives sagen. Ich schlage vor, dass du dich ein paar Stunden schlafen legst, Tessa. Es nutzt Nathaniel nichts, wenn du dich völlig verausgabst.«
Tessa musste sich zwingen, einfach nur zu nicken, statt Charlotte mit einer Fülle von Fragen zu bestürmen, von denen sie ohnehin wusste, dass die Schattenjägerin sie nicht würde beantworten können.
»Ach, Jem«, fuhr Charlotte fort, »könnte ich wohl ein paar Minuten mit dir sprechen? Wärst du so freundlich und würdest mich zur Bibliothek begleiten?«
Jem nickte. »Selbstverständlich.« Dann neigte er den Kopf ein wenig und schenkte Tessa ein Lächeln. »Also dann, bis morgen«, sagte er und folgte Charlotte durch den Korridor.
Kaum waren die beiden um die Ecke verschwunden, rüttelte Tessa auch schon an der Tür von Nates Zimmer, aber sie war fest verschlossen.
Seufzend machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in die andere Richtung. Vielleicht hatte Charlotte ja recht - vielleicht sollte sie wirklich zu schlafen versuchen.
Sie hatte gerade die Hälfte der Strecke zu ihrem eigenen Zimmer zurückgelegt, als sie wütendes Schimpfen hörte. Im nächsten Moment tauchte Sophie im Flur auf, in jeder Hand einen Metallkübel, und verpasste der Tür hinter ihr einen solchen Tritt, dass sie mit einem Knall zuflog. Das Dienstmädchen wirkte fuchsteufelswild. »Seine Gnaden sind heute wieder mal besonders guter Laune«, teilte sie Tessa mit, als diese näher kam. »Hat mir einfach einen
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