Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
zurückzugewinnen. De Quincey schlug vor, ich solle auf Pump spielen, also lieh ich mir Geld. Von da an ging ich überhaupt nicht mehr ins Büro - ich verschlief die Tage und spielte jede Nacht hindurch. Und ich verlor alles, was ich besaß.« Nates Stimme klang weit entfernt. »Als ich deinen Brief mit der Nachricht von Tante Harriets Tod erhielt, Tessa, dachte ich, dies sei eine Strafe Gottes, eine Ahndung meines Verhaltens. Am liebsten wäre ich sofort zum Fahrkartenschalter gelaufen und hätte noch für denselben Tag einen Fahrschein für die Rückfahrt nach New York gekauft, doch ich besaß keinen roten Heller mehr. Verzweifelt kehrte ich in den Club zurück - unrasiert, elendig und mit blutunterlaufenen Augen. Ich muss ausgesehen haben wie ein Mann, der den absoluten Tiefpunkt erreicht hat - denn genau in diesem Moment unterbreitete de Quincey mir ein Angebot: Er zog mich in ein Hinterzimmer und eröffnete mir, dass ich dem Club inzwischen so viel Geld schuldete, dass ich es unmöglich zu Lebzeiten zurückzahlen konnte. Das Ganze schien ihn ungemein zu amüsieren, diesen Teufel. Während er sich ein unsichtbares Stäubchen vom Ärmel schnippte und mich mit seinen spitzen Nadelzähnen angrinste, fragte er, was ich denn zu geben bereit wäre, um meine Schulden zu begleichen. ›Alles!‹, erwiderte ich. Und dann sagte er: ›Auch Ihre Schwester?‹«
Tessa spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten und sich sämtliche Blicke auf sie hefteten. »Was ... was hat er über mich gesagt?«
»Ich war vollkommen überrumpelt«, erklärte Nate. »Und ich konnte mich nicht erinnern, jemals mit ihm über dich gesprochen zu haben. Aber ich war im Club oft schwer betrunken gewesen und wir hatten immer offen miteinander geredet ...« Die Teetasse in seiner zitternden Hand klapperte so heftig auf ihrer Untertasse, dass er sie mit einem deutlichen Klirren auf den Tisch stellen musste. »Natürlich habe ich ihn gefragt, was er denn mit meiner Schwester anfangen wolle. Darauf erwiderte er, er habe Grund zu der Annahme, dass eines der Kinder meiner Mutter besondere ... besondere Fähigkeiten besitze. Zunächst habe er gedacht, dass ich vielleicht derjenige sei. Doch nachdem er nun ausreichend Gelegenheit gehabt habe, mich zu beobachten, könne er mit Sicherheit feststellen: Das einzig Ungewöhnliche an mir sei meine unglaubliche Torheit.« Nates Ton klang bitter. »›Aber Ihre Schwester ... Ihre Schwester ist etwas ganz Besonderes‹, fügte er hinzu. ›Sie besitzt all jene Fähigkeiten, über die Sie nicht verfügen. Und ich hege keineswegs die Absicht, ihr irgendein Leid zuzufügen. Dafür ist sie viel zu wertvoll.‹
Ich drängte und bettelte um weitere Informationen, doch de Quincey blieb hart. Entweder lieferte ich dich ihm aus oder ich müsste sterben, sagte er. Und dann teilte er mir im Einzelnen mit, was genau ich zu tun hatte.«
Tessa atmete langsam aus. »De Quincey befahl dir, diesen Brief an mich zu schreiben. Mir den Fahrschein für die Main zu senden. Er veranlasste dich, mich nach England zu holen«, sagte sie leise.
Nates Augen flehten um Verständnis. »Er schwor, er würde dir kein Haar krümmen. Und er versicherte mir, er wolle dir lediglich beibringen, deine besonderen Fähigkeiten zu nutzen ... und du würdest mit Ruhm und Reichtum überschüttet werden, Reichtum jenseits aller Vorstellungskraft ...«
»Welch nobles Angebot«, unterbrach Will ihn. »Schließlich gibt es nichts Wichtigeres auf der Welt als Geld.« Seine Augen funkelten vor Empörung und auch Jem wirkte nicht weniger entrüstet.
»Das ist doch nicht Nates Schuld!«, fauchte Jessamine. »Habt ihr nicht gehört, was er gesagt hat? De Quincey hätte ihn sonst getötet. Außerdem wusste er, wer Nate war ... woher er kam. Letztendlich hätte de Quincey Tessa auch ohne ihn gefunden und Nate wäre völlig umsonst gestorben.«
»Ach, das ist also deine objektive, von ethischen Grundsätzen geleitete Meinung, Jess?«, bemerkte Will. »Und die hat gewiss nichts mit der Tatsache zu tun, dass du Tessas Bruder seit seiner Ankunft permanent hinterherläufst, oder? Dir ist jeder Irdische recht, stimmt's? Ganz gleich, wie nichtsnutzig ...«
Jessamine kreischte empört auf und sprang von ihrem Stuhl auf. Charlotte versuchte, mit erhobener Stimme zwischen die beiden zu gehen, die nun wütend aufeinander einschimpften, doch Tessa hörte gar nicht mehr zu. Ihr Blick ruhte auf Nate.
Sie hatte schon eine ganze Weile gewusst, dass ihr
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