Schwimmen mit Elefanten - Roman
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Ich möchte die Geschichte von Anfang an erzählen, noch bevor unser Held »Kleiner Aljechin« genannt wurde, also zu einer Zeit, als er noch den Namen trug, den ihm seine Eltern gegeben hatten.
Im Alter von sieben Jahren fand er es jedes Mal sehr aufregend, wenn seine Großmutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder einen Kaufhausbummel unternahm. Zwar war die zwanzigminütige Busfahrt ins Stadtzentrum eine Tortur, weil dem Jungen dabei immer schlecht wurde, und es bestand auch nicht die Aussicht, ein Spielzeug gekauft zu bekommen oder im Restaurant ein Kindermenü bestellen zu dürfen. Trotzdem war es für den Jungen ein ganz besonderes Erlebnis. Während seine Großmutter mit seinem jüngeren Bruder durch die Etagen lief, um sich Miniatureisenbahnen oder U-Boot-Modelle anzuschauen, beziehungsweise Seidenkleider und Krokodillederhandtaschen, verbrachte er die Zeit oben auf dem Dach. Zu jener Zeit waren die Dachterrassen von Kaufhäusern alle ähnlich ausgestattet: es gab einen Spielplatz mit Holzpferdchen, Reitautomaten, Karussellen und Drehscheiben wie jene überdimensionale Kaffeetasse, in der sich lachende Kinder drängten.
Doch er interessierte sich nicht für diese Art von Vergnügungen. Das mulmige Gefühl von der Busfahrt war nie ganz verflogen, und außerdem hatte er kein Geld, um sich ein Billett für die Spielgeräte zu kaufen. Er ging immer schnurstracks über die Terrasse und um das Riesenrad herum und stellte sich in die Nische zwischen der Wand zum Kesselraum und dem Schutzgitter. An dem Gitter war eine kleine Hinweistafel angebracht:
Hier an diesem Ort ist der Elefant Indira gestorben. Er war zur Einweihung des Kaufhauses eigens aus Indien geholt worden und sollte eigentlich nur als Jungtier hier bleiben und danach dem Zoo übergeben werden. Da er aber bei den Kindern so beliebt war, versäumte man die Übergabefrist, und schließlich war er zu groß geworden, um das Dach verlassen zu können. Er ließ sein Leben, nachdem er 37 Jahre lang an diesem Ort die Herzen der Kinder erfreut hatte
.
Für einen Jungen, der gerade Lesen und Schreiben in der Schule lernte, war es schwierig, die Inschrift zu entziffern, aber seine Großmutter hatte ihm die Tafel Dutzende Male vorgelesen, sodass er sie auswendig kannte.
Zum Andenken an Indira war am Pfeiler ein eiserner Fußring befestigt, der schon völlig verrostet und so schwer war, dass ihn ein Kind unmöglich hochheben konnte. Neben der Inschrift war ein Bild des Elefanten angebracht – auf indische Art mit Glasperlen und Quasten geschmückt und mit triumphal erhobenem Rüssel –, aber der Junge wusste, dass es sich um eine Fälschung handelte. Es fehlte der Eisenring um Indiras Fuß.
Wie üblich stand der Junge eine ganze Weile lang still vor dem Gitter und ließ sich den kalten Wind um die Ohren blasen, während seine Gedanken um den Elefanten kreisten. Die kleine Indira, wie sie im Fahrstuhl auf das Dach transportiert wurde. Neugierig raunende Zuschauer, die sich drängten und gegenseitig wegschubsten, um das Tier zu berühren. Johlende Kinder auf den Schultern ihrer Eltern. Indira machte Kulleraugen, schwenkte ihren Rüssel hin und her und aß Bananen.
Schließlich kam der Tag, da Indira in den Zoo umziehen sollte. Aus diesem Anlass wurde ein großes Fest veranstaltet. Kinder lasen schluchzend Abschiedsbriefe vor, dann begann der Aufbruch. Ihr Wärter führte sie hinüber zum Fahrstuhl, und die Leute schrien überrascht auf, als Indira mit dem Kopf anstieß. Der Elefant passte nicht mehr in die Kabine. Der Wärter drückte mithilfe eines Stocks seinen Rüssel herunter, während die anderen das Tier mit vereinten Kräften von hinten hineinzuschieben versuchten. Indira verstand nicht, was genau gerade mit ihr geschah. Sie wollte es allen recht machen, vor allem ihrem Wärter, indem sie die Ohren anlegte und ihr Hinterteil einzog, aber alle Anstrengung war vergebens. Ihr taten die Glieder weh, und diese Schmerzen trieben ihr Tränen in die Augen. Was immer auch unternommen wurde, man sah schließlich ein, dass Indira für den Fahrstuhl inzwischen zu groß geworden war.
Jetzt blieb nur noch die Möglichkeit, die Treppe zu nehmen.
»Na, sei ein braves Mädchen. Du musst ganz langsam machen. Das schaffst du schon, du bist doch klug genug. Stufe für Stufe, einen Fuß vor den anderen. Für jede Stufe gibt es eine Belohnung. Versuch es doch einmal!«
Aber alles Zureden oder Drohen war vergeblich. Indira, die nie zuvor eine Treppe gesehen hatte,
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