Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
da sicher sein, dass dieses Antlitz tatsächlich ihr eigenes war - selbst wenn es sich um dasjenige handelte, das sie seit ihrer Geburt besaß? Und wenn sie sich rückverwandelte, woher sollte sie da wissen, dass nicht doch eine winzige Kleinigkeit anders geblieben war - etwas, das sie zu einem anderen Mädchen machte als dasjenige, das sie zuvor gewesen war? Oder spielte ihr Äußeres überhaupt keine Rolle? War ihr Gesicht nicht mehr als eine Maske aus Haut und Muskeln, die nichts mit ihrem wahren Ich zu tun hatte?
Tessa konnte auch Sophies Reflexion im Spiegel erkennen. Sie hatte das Gesicht so gedreht, dass Tessa ihre vernarbte Wange deutlich sah - die Wange, die bei Tageslicht noch viel schlimmer aussah als bei ihrer ersten Begegnung. Der Anblick erinnerte Tessa an ein wunderschönes Gemälde, das jemand mit einem Messer mutwillig zerschlitzt hatte. Alles in ihr drängte danach, das Mädchen zu fragen, wie es dazu gekommen war. Doch Tessa wusste, dass sie diese Frage nicht stellen durfte. Stattdessen sagte sie: »Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mir beim Ankleiden hilfst.«
»Stets zu Diensten, Miss«, erwiderte Sophie mit ausdrucksloser Stimme.
»Ich wollte dich bloß fragen ...«, setzte Tessa an. Sophie erstarrte. Sie denkt, ich würde sie zu ihrem Gesicht befragen, schoss es Tessa durch den Kopf und fuhr dann laut fort: »Die Art und Weise, wie du gestern Abend mit Will im Flur gesprochen hast ...«
Sophie lachte - kurz, aber aufrichtig. »Es ist mir gestattet, mit Mr Herondale zu reden, wie und wann ich will. Das war eine meiner Bedingungen bei meiner Anstellung in diesem Haus.«
»Charlotte hat dich Bedingungen aufstellen lassen?«
»Hier im Institut kann nicht jeder arbeiten«, erklärte Sophie. »Man muss das zweite Gesicht haben. Agatha hat diese Gabe und Thomas ebenfalls. Als Mrs Branwell erfuhr, dass auch ich das zweite Gesicht besitze, wollte sie mich sofort einstellen. Sie meinte, sie würde schon seit einer halben Ewigkeit nach einer Zofe für Miss Jessamine suchen. Allerdings warnte sie mich vor Mr Herondale und meinte, er würde sich mir gegenüber vermutlich grob und zu vertraulich verhalten. Und sie fügte hinzu, ich dürfte genauso unhöflich zu ihm sein; niemand würde daran Anstoß nehmen.«
»Irgendjemand muss ja unhöflich zu ihm sein. Schließlich verhält er sich gegenüber allen anderen sehr ungehobelt.«
»Ich wette, dass Mrs Branwell etwas Ähnliches gedacht hat.« Sophie schenkte Tessa über den Spiegel ein verschmitztes Grinsen.
Sie war unglaublich hübsch, wenn sie lächelte, dachte Tessa, ob nun mit oder ohne Narbe. »Du magst Charlotte, stimmt's?«, fragte sie. »Sie scheint wirklich nett zu sein.«
Sophie zuckte die Achseln. »Bei meiner vorigen Stelle hat Mrs Atkins - das war die Haushälterin - über jede Kerze und jedes Stückchen Seife, das wir benutzten, Buch geführt. Wir mussten die Seife bis zum letzten Fitzelchen aufbrauchen, ehe sie uns ein neues Stück gab. Aber Mrs Branwell gibt mir neue Seife, wann immer ich es möchte.« Sie betonte den letzten Satz, als wäre er ein klares Zeugnis für Charlottes guten Charakter.
»Vermutlich verfügt das Institut über viel Geld.« Tessa dachte an die prachtvollen Möbel und die allgemeine Grandezza des Gebäudes.
»Ja, vielleicht. Aber ich habe schon genügend Kleider für Mrs Branwell geändert, um zu wissen, dass sie sie nicht neu kauft.«
Tessa erinnerte sich an das blaue Gewand, das Jessamine am Abend zuvor beim Dinner getragen hatte. »Und was ist mit Miss Lovelace?«
»Sie verfügt über eigene Mittel«, erwiderte Sophie vage und trat dann einen Schritt zurück. »So. Jetzt können Sie sich sehen lassen.« Tessa lächelte. »Vielen Dank, Sophie.«
Als Tessa das Speisezimmer betrat, waren die anderen schon fast mit dem Frühstück fertig. Charlotte saß in einem schlichten grauen Kleid am Tisch und strich Marmelade auf einen Toast; Henry hockte halb verborgen hinter seiner Zeitung und Jessamine löffelte zierlich eine Schüssel Haferbrei. Will dagegen hatte seinen Teller mit Eiern und Speck vollgehäuft und schaufelte sich unermüdlich durch den Berg - was Tessa recht ungewöhnlich erschien für jemanden, der behauptete, die halbe Nacht getrunken zu haben.
»Wir haben gerade von Ihnen gesprochen«, sagte Jessamine, als Tessa sich setzte. Sie schob eine silberne Servierplatte quer über den Tisch. »Etwas Toast?«
Tessa schaute nervös in die Runde. »Worum ging es denn dabei?«
»Natürlich
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