Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
an den Wänden des Wohnzimmers.
»Dies war mein Haus«, sagte Jessamine tonlos, kniete sich vor den Tisch, sodass sie mit den Räumen des Puppenhauses auf Augenhöhe war, und winkte Tessa zu sich heran.
Unbehaglich ließ Tessa sich neben ihr nieder, wobei sie sich bemühte, nicht auf Jessamines Rocksaum zu knien. »Du meinst wohl, dies war dein Puppenhaus ... das, mit dem du als kleines Mädchen gespielt hast?«
»Nein.« Jessamine klang ungehalten. »Dies war mein Haus. Mein Vater hat es für mich anfertigen lassen, als ich sechs Jahre alt war. Es ist ein exaktes Modell des Hauses, in dem wir damals gewohnt haben ... in der Curzon Street. Hier siehst du die Tapete, die in unserem Speisezimmer hing ...« Sie zeigte auf eine der Wände. »Und das hier sind genaue Nachbildungen der Stühle im Arbeitszimmer meines Vaters. Siehst du?«
Jessamine schaute Tessa derart eindringlich an, dass ihr klar wurde, die junge Schattenjägerin erwartete eine besondere Reaktion von ihr. Doch Tessa sah in dem Puppenhaus nichts anderes als nur ein extrem teures Spielzeug aus einer Zeit, der das Mädchen eigentlich längst hätte entwachsen sein müssen - sie konnte einfach nicht erkennen, was Jessamine meinte. »Wirklich sehr hübsch«, sagte sie schließlich.
»Siehst du, hier im Salon, das ist Mama«, fuhr Jessamine fort und berührte eine der winzigen Puppen vorsichtig mit dem Finger, woraufhin diese in ihrem Plüschsessel leicht wackelte. »Und hier im Arbeitszimmer sitzt Papa, mit einem Buch.« Ihr Finger streifte behutsam über eine andere Porzellanfigur. »Und ganz oben, im Kinderzimmer, liegt Klein Jessie in ihrem Bettchen.« Im Inneren der winzigen Wiege befand sich tatsächlich ein weiteres Püppchen, dessen Kopf kaum sichtbar unter dem Miniaturdeckchen hervorlugte. »Später werden alle gemeinsam zu Abend essen, hier im Speisezimmer. Und danach werden Mama und Papa im Salon am offenen Kamin sitzen. Manchmal gehen sie aber auch ins Theater oder in ein elegantes Restaurant oder auf einen Ball.« Jessamines Stimme klang nun gedämpft, als zitiere sie eine oft wiederholte Litanei. »Und dann wird Mama Papa einen Gutenachtkuss geben und sie werden auf ihre Zimmer gehen und die ganze Nacht schlafen ... bis zum Morgen. Sie werden nicht mitten in der Nacht vom Rat aus dem Schlaf gerissen, der von ihnen verlangt, hinaus in die Dunkelheit zu gehen und gegen Dämonen zu kämpfen. Sie werden kein Blut durchs ganze Haus verteilen. Und niemand wird beim Kampf gegen einen Werwolf einen Arm oder ein Auge verlieren oder Unmengen von Weihwasser in sich hineinschütten müssen, weil er von einem Vampir angegriffen wurde.«
Oh mein Gott, dachte Tessa bestürzt.
Plötzlich verzog Jessamine das Gesicht, als könnte sie Tessas Gedanken lesen. »Nachdem unser Haus abgebrannt war, konnte ich nirgendwo anders hin. Es gab auch keine entfernten Familienangehörigen, die mich hätten aufnehmen können. Sämtliche Verwandten waren Schattenjäger, mit denen Mama und Papa seit dem Bruch mit dem Rat kein Wort mehr gewechselt hatten.« Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Henry hat diesen Sonnenschirm extra für mich angefertigt, hast du das gewusst? Anfangs fand ich den Schirm ganz entzückend, bis Henry mir erzählte, dass das Gewebe mit Elektrumdraht versehen und dadurch so scharf wie ein Messer ist. Der Schirm war nie etwas anderes als eine Waffe.«
»Du hast uns das Leben gerettet«, sagte Tessa. »Vorhin im Park. Ich kann überhaupt nicht kämpfen. Wenn du nicht gewesen wärst ...«
»Ich hätte es nicht tun dürfen.« Jessamine starrte mit leerem Blick in das Puppenhaus. »Ich werde dieses Leben nicht führen, Tessa. Ich will so nicht leben. Es ist mir egal, was ich dafür tun muss. Aber so will ich nicht leben - eher sterbe ich.«
Diese Worte beunruhigten Tessa und sie wollte Jessamine gerade erklären, dass sie so etwas nicht sagen dürfe, als hinter ihnen die Tür geöffnet wurde und Sophie in ihrem adretten schwarzen Kleid und der weißen Haube ins Zimmer trat. Ihr Blick streifte über Jessamine und Tessa sah, dass ein misstrauischer Ausdruck in ihren Augen lag.
»Miss Tessa, Mr Branwell möchte Sie dringend in seinem Arbeitszimmer sprechen. Er sagt, es sei sehr wichtig«, wandte sie sich schließlich an Tessa.
Als Tessa sich zu Jessamine umdrehte, um diese zu fragen, ob sie sie einen Moment allein lassen könne, hatte das Gesicht der Schattenjägerin wieder einen verschlossenen Ausdruck angenommen. Die Verwundbarkeit und der
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