Das Kind, Das Nicht Fragte
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A N EINEM sonnigen Aprilmorgen komme ich mit dem Flugzeug in Catania an. Wie schon so oft bin ich der letzte Fluggast, der das Flugzeug verlässt. Ich habe beim Anflug auf die Stadt in der Ferne den Ätna entdeckt, und das Bild des breit hingelagerten Vulkans mit seinen deutlich erkennbaren Rauchspuren und dem kegelförmigen Schneegipfel fesselt mich so, dass ich ihn von meinem Fensterplatz aus fotografiere. Zwei Stewardessen sind schließlich bei mir und bitten mich, das Flugzeug zu verlassen, sie sind freundlich und höflich, aber ich merke ihnen an, dass sie über meine Langsamkeit leicht verstimmt sind.
Ich nicke nur, obwohl mir die Frage auf der Zunge liegt, warum denn eine solche Eile geboten ist. Schließlich ist jedem Fluggast doch klar, dass man in einer scheußlichen Wartehalle lange auf die Koffer und das Gepäck warten wird. Warum kann ich dann aber nicht noch einen kleinen Moment im Flugzeug verweilen und die Schönheit des Ätna bewundern, anstatt ein rotierendes Laufband anzustarren?
Das sind einfache Fragen, die vielleicht sogar zu jenen seltenen Fragen gehören, über die man länger nachdenken könnte. Ich stelle diese Fragen jedoch nicht, ich habe Hemmungen. Auch als ich mein Handgepäck geordnet und den Weg zum Ausgang gefunden habe, frage ich nicht nach, obwohl mir lauter Fragen zu dem Thema, was die beiden Stewardessen mit dem weiteren Tag anstellen werden, auf der Zunge liegen: Zurück nach Deutschland fliegen? In Catania übernachten? Dort irgendwo (aber wo und vor allem mit wem?) einen schönen Abend verbringen?
Ich mag Stewardessen, ich sehe in ihnen weniger attraktive als mütterliche Gestalten, die den still und steif dasitzenden Fluggästen etwas Nahrung in die geöffneten Vogelmünder träufeln und stopfen, ich sehe sie als große, langbeinige Vögel, die sich über die Vogelnester zu beiden Seiten des schmalen Laufstegs hermachen und sie laufend beäugen. Gerne wäre ich mit einer von ihnen einmal einen Abend zusammen und würde sie alles fragen, was ich mir in meinen Flugjahren an Fragen für sie notiert habe. Doch leider – ich schweige, meine Hemmungen sind zu stark, und so nicke ich nur blöde auf ihren Abschiedsgruß hin und greife schweigend nach einer der sizilianischen Begrüßungsorangen, die sie den Fluggästen beim Verlassen des Flugzeugs in einem Korb hinhalten.
Als ich die Orange zu fassen bekomme, bemerke ich sofort, dass sie aus Marzipan ist, ich habe zu stark zugegriffen und dadurch das Marzipan etwas gedrückt und
gequetscht. Und so lege ich die aus der Form geratene Süßigkeit wieder in den Korb zurück und nicke den beiden etwas angewidert dreinblickenden Stewardessen erneut zu. Es ist eine Szene wie in einem Loriot-Sketch, sie werden dich jetzt für einen Verrückten halten, der Loriot-Sketche im richtigen Leben nachspielt, denke ich noch und werde bei diesem Gedanken so verlegen, dass ich, um meine Verlegenheit wegzulächeln, laut Arrivederci! sage. Auf Wiedersehen! , antworten die beiden Stewardessen da beinahe unisono, und die dezidiert deutschsprachige Antwort macht mich noch unsicherer, so dass ich zum dritten Mal nicke und dann mit meinem verzerrten Lächeln die Gangway hinabtrotte.
An den Fingern meiner rechten Hand klebt aber noch etwas Marzipan, ich versuche, es unauffällig am Geländer abzustreifen, da sehe ich, dass mir eine der beiden Stewardessen hinterherläuft und mir eine Serviette reicht. Wir stehen dicht nebeneinander auf einer mittleren Stufe der Gangway und sorgen uns gemeinsam um meine verklebten Finger, es muss ein seltsames, irritierendes Bild sein, jedenfalls starren uns die anderen Fluggäste aus dem Innern des wartenden Busses so entsetzt an, als wäre gerade ein großes Unglück passiert. Um der Sache ein Ende zu machen, nehme ich die Serviette in die rechte Hand und schlinge sie dann geschickt wie einen Verband um meine Finger, die Stewardess schaut mir etwas besorgt hinterher, doch ich schaffe es dann wirklich, den Boden Siziliens ohne weitere Komplikationen zu betreten.
Jetzt erst spüre ich die angenehme Wärme, die weiche Frühlingswärme Siziliens, dichte, niemals schwüle, sondern vom Meerwind gesiebt wirkende Luft, eine Luft voller Aromen, ein Duft von Orangen, Zitronen und Kräutern. Ich kenne diesen Geruch schon von meinen früheren Aufenthalten her, doch ich bin sofort wieder überrascht und gebannt. Kein mir bekanntes Land verströmt einen solchen Duft, er ist einzigartig, und er erinnert mich an die Bilder der
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