Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Fenster. Nur ein dünner Mondstrahl fand einen Weg durch den weißen Nebel, in dem Gestalten zu schweben und sich an die Fensterscheibe zu pressen schienen - Geister, Schatten, spöttisch verzerrte Fratzen. »Du weißt, dass das der Wahrheit entspricht«, fügte er hinzu.
»Aber das ist doch noch längst nicht entschieden«, widersprach Tessa mit zitternder Stimme. »Das muss nicht zwangsläufig so bleiben. Vielleicht findet man ein Heilmittel ...«
»Es gibt kein Heilmittel«, sagte Jem. Allerdings klang er nicht länger wütend - eher gleichgültig, was fast noch schlimmer war. »Ich werde sterben und du weißt das auch, Tessa. Vermutlich innerhalb des nächsten Jahres. Meine Tage sind gezählt und ich habe keinerlei Familie mehr auf dieser Welt. Und der einzige Mensch, dem ich mehr als jedem anderen vertraut habe, macht sich ausgerechnet über das lustig, was mich umbringt.«
»Aber Jem, ich glaube nicht, dass Will das auch nur im Entferntesten beabsichtigt hat.« Tessa lehnte den Bogen gegen das Fußbrett von Jems Bett und trat zögernd näher, vorsichtig, als sei er ein scheues Tier, das sie nicht verschrecken wollte. »Will hat nur zu flüchten versucht. Er flieht vor etwas, irgendetwas Dunklem und Schrecklichem. Du weißt, dass das stimmt, Jem. Du hast ihn selbst gesehen, nach ... nach der Begegnung mit Cecily.« Sie stand nun direkt hinter ihm, nahe genug, dass sie die Hand hätte ausstrecken und ihn zaghaft am Arm hätte berühren können. Doch sie hielt sich zurück. Ihr Blick fiel auf sein weißes Hemd, das schweißfeucht an seinen Schulterblättern klebte, und sie konnte durch das Gewebe hindurch die schwarzen Runenmale auf seinem Rücken erkennen.
Beinahe achtlos legte Jem seine Geige auf der Truhe ab und drehte sich zu Tessa um. »Will weiß genau, was das für mich bedeutet ... zusehen zu müssen, wie er mit etwas herumspielt, das mein Leben zerstört hat ...«
»Aber dabei hat er doch gar nicht an dich gedacht ...«
»Das weiß ich.« Jems Augen schimmerten inzwischen fast durchgehend schwarz. »Ich sage mir ja selbst, dass er ein besserer Mensch ist, als er uns glauben machen will. Aber was ist, wenn das gar nicht stimmt, Tessa? Ich habe immer gedacht, wenn mir schon nichts anderes in der Welt bleibt, dann habe ich wenigstens noch Will. Und wenn ich in meinem Leben schon nichts Sinnvolles erreicht habe, dann habe ich wenigstens immer an seiner Seite gestanden. Aber vielleicht sollte ich das gar nicht.«
Seine Brust hob und senkte sich jetzt so schnell, dass es Tessa langsam mit der Angst zu tun bekam. Besorgt legte sie ihm eine Hand an die Stirn und schnappte nach Luft. »Du glühst ja förmlich. Es wäre besser, wenn du dich hinlegst ...« Ruckartig zuckte Jem vor ihr zurück und Tessa ließ gekränkt die Hand sinken. »Jem, was hast du? Möchtest du nicht, dass ich dich anfasse?«
»Nicht auf diese Weise!«, brauste er auf und dann röteten sich seine Wangen noch stärker als zuvor.
»Auf welche Weise?« Tessa musterte ihn aufrichtig verwirrt; ein derartiges Benehmen hätte sie vielleicht von Will erwartet, aber nicht von Jem ... diese Rätselhaftigkeit, dieser Zorn.
»So als ob du eine Krankenschwester wärst und ich dein Patient«, erwiderte er mit leiser, aber fester Stimme. »Du denkst, nur weil ich krank bin, könnte ich nicht auch ...« Er verstummte und holte gequält Luft. »Glaubst du, ich wüsste nicht, dass du meine Hand nur deshalb nimmst, damit du meinen Puls fühlen kannst? Und dass du mir nur deshalb in die Augen schaust, damit du überprüfen kannst, ob und wie viel ich von meiner Arznei genommen habe? Wenn ich ein anderer Mann wäre ... ein normaler Mann ... dann würde ich mir vielleicht Hoffnungen machen oder sogar Erwartungen hegen. Ich würde ...« Er verstummte; seine Worte schienen ihm im Hals stecken zu bleiben - entweder weil ihm bewusst wurde, dass er bereits zu viel gesagt hatte, oder weil ihm der Atem ausgegangen war. Jedenfalls rang er nach Luft und seine Wangen leuchteten flammend rot.
Tessa schüttelte den Kopf und spürte, wie ihre Zöpfe sie am Hals kitzelten. »Das ist das Fieber, das aus dir spricht; das bist nicht du.«
Im nächsten Moment verfinsterten sich Jems Augen und er wandte sich von ihr ab. »Du kommst ja nicht einmal auf die Idee, dass ich dich vielleicht begehren könnte«, sagte er leise, fast flüsternd. »Dass ich lebendig genug ... gesund genug bin ...
»Nein ...« Ohne lange darüber nachzudenken, ergriff Tessa Jems Arm und spürte,
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