Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
gewusst, überlegte sie, aber Jem musste - genau wie sie - einem Instinkt gefolgt sein, einem Instinkt, der so alt war wie die Welt.
Seine Finger schoben sich in den nicht vorhandenen Raum zwischen ihren Körpern und fanden die Knöpfe, die Tessas Nachthemd zusammenhielten; und als das zarte Gewebe beiseiteglitt, beugte er sich herab und küsste ihre entblößte Schulter.
Nie zuvor hatte jemand Tessas nackte Haut geküsst. Das Gefühl war so überraschend, so überwältigend, dass sie eine Hand ausstreckte, um sich abzustützen, und dabei versehentlich ein Kissen vom Bett stieß. Das Kissen fiel gegen den kleinen Nachttisch und im nächsten Moment ertönte ein lautes Krachen und ein süßlicher, betörender Duft, wie von exotischen Gewürzen, erfüllte den Raum.
Ruckartig zog Jem seine Hände zurück, einen entsetzten Ausdruck auf dem Gesicht.
Auch Tessa setzte sich auf und nahm, plötzlich verlegen, den Ausschnitt ihres Nachthemds zusammen. Jem starrte über die Bettkante und Tessa folgte seinem Blick: Das aus Silber gefertigte Kästchen, in dem er seine Arznei aufbewahrte, war zu Boden gestürzt und aufgesprungen. Eine dicke Schicht aus schimmerndem Pulver hatte sich über die Holzdielen verteilt, von denen nun ein feiner silbriger Dunst aufzusteigen schien und den süßen, würzigen Duft verströmte.
Im nächsten Moment zog Jem Tessa zurück, schlang seinen Arm um sie, doch aus der Umarmung sprach eher Furcht als Leidenschaft. »Tess«, sagte er leise und eindringlich, »du darfst diese Substanz nicht berühren. Wenn deine Haut damit in Kontakt käme, wäre das ... gefährlich. Du darfst es nicht einmal einatmen - Tessa, du musst sofort gehen.«
Tessa dachte unwillkürlich an Will und daran, wie er sie vom Dachboden weggeschickt hatte. Würde es immer so enden? Würde es immer so sein, dass ein Junge sie küsste und ihr dann zu gehen befahl, als wäre sie ein unerwünschtes Dienstmädchen? »Nein, ich bleibe hier!«, brauste sie auf. »Jem, ich kann dir beim Aufräumen helfen. Wir sind doch ...«
Freunde, wollte sie sagen, hielt dann aber inne. Denn das, was sie gerade getan hatten, war nichts, was Freunde miteinander taten. Also was war sie für ihn?
»Bitte«, beschwor er sie leise. Tessa erkannte das Gefühl, das aus seiner heiseren Stimme sprach - Scham. »Ich möchte nicht, dass du mich so siehst ... wie ich auf den Knien hocke und hastig die Substanz vom Boden aufsammle, die ich zum Überleben brauche. Kein Mann möchte auf diese Weise von dem Mädchen gesehen werden, das er ...« Er verstummte und holte gequält Luft. »Es tut mir leid, Tessa.«
Von dem Mädchen, das er ...? Doch Tessa brachte es nicht fertig, diese Frage laut zu stellen. Sie fühlte sich überwältigt von miteinander streitenden Gefühlen - Mitleid, Sympathie und Schock angesichts dessen, was sie eben getan hatten. Stumm beugte sie sich vor und küsste Jem auf die Wange. Doch er blieb reglos sitzen, während sie aus dem Bett stieg, ihren Morgenmantel vom Boden raffte und leise das Zimmer verließ.
Der Korridor wirkte noch genauso wie zu dem Zeitpunkt, als Tessa ihn Momente - Minuten - Stunden? - zuvor durchquert hatte: nur schwach vom flackernden Elbenlicht beleuchtet, das sich in beide Richtungen entlang der Wände erstreckte. Rasch schlüpfte Tessa in ihr Zimmer und wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung am Ende des Ganges wahrnahm. Irgendein Reflex ließ sie innehalten, die Tür fast geschlossen, ein Auge an den winzigen Spalt gepresst.
Die Bewegung entpuppte sich als ein Schemen, der durch den Flur schlich. Ein blonder Mann, dachte Tessa einen Moment verwirrt, erkannte dann aber: Es handelte sich um Jessamine, Jessamine in Männerkleidung. Sie trug eine dunkle Hose und einen Gehrock, unter dem eine Weste zum Vorschein kam; ihre langen blonden Haare hatte sie fest nach hinten gesteckt und sie hielt einen Herrenhut in der Hand. Nach einem verstohlenen Blick über die Schulter hastete sie durch den Gang, als fürchtete sie, jemand würde ihr folgen. Und wenige Sekunden später war sie auch schon um eine Ecke verschwunden.
Leise schloss Tessa die Zimmertür. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich: Was um alles in der Welt ging hier vor? Was hatte Jessamine dazu veranlasst, zu mitternächtlicher Stunde durch das Institut zu geistern, noch dazu gekleidet wie ein Mann? Nachdenklich hängte Tessa ihren Morgenmantel auf und schlüpfte unter die Bettdecke. Sie fühlte sich
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