Commissario Brunettis zwanzigster Fall - Reiches Erbe
eine Hand auf den Arm, strich darüber und zog sie dann schnell zurück. »Maria weiß nichts, oder jedenfalls weiß sie nicht, dass ich es weiß. Aber ich weiß es. Und Sie wissen es jetzt auch.«
Angesichts dieser furchtbaren Wahrheiten und ihrer noch furchtbareren Konsequenzen blieb Brunetti nur Schweigen. Es kam keine Antwort, weder von der Fassade der Kirche noch von der casa di cura.
Brunetti stand auf. Er hielt Morandi die Hand hin und half ihm hoch. »Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
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D em alten Mann musste die Treppe hinaufgeholfen werden. Brunetti überspielte das mit der Bemerkung, er sei neugierig auf die Aussicht, von da oben müssten ja der Campanile und die Basilica zu sehen sein - ob Signor Morandi ihm das wohl zeigen werde? Brunetti hielt ihn fest unterm Arm, machte auf jedem Absatz halt und erfand eine alte Knieverletzung, die ihm zu schaffen mache. Endlich kamen sie oben an, Morandi froh, weniger Mühe gehabt zu haben als ein viel Jüngerer, Brunetti froh, dass er den Älteren davor bewahrt hatte, seine Gebrechlichkeit eingestehen zu müssen.
Morandi öffnete die Tür und trat zur Seite, um seinem Gast den Vortritt zu lassen. Der alte Mann lebte seit drei Jahren allein in dieser Wohnung. Brunetti war daher auf eine gewisse Unordnung oder gar Schlimmeres gefasst, aber was er jetzt sah, verschlug ihm die Sprache. Durch eine Tür am Ende des Flurs schien die Spätnachmittagssonne. Ihr Licht gleißte auf spiegelblankem cotto Veneziano. Solche Originalfliesen sah man in den oberen Etagen der Palazzi nur noch selten; wie sie hergestellt wurden oder ausgebessert werden konnten, war längst in Vergessenheit geraten. Die Zimmerdecken waren nicht besonders hoch, aber der Eingangsbereich war riesig und der Flur ungewöhnlich breit.
»Von diesem Zimmer aus können Sie die Basilica sehen«, sagte Morandi und ging Brunetti voran den Flur hinunter. An den Wänden standen keine Möbel, und die Zimmer links [313] und rechts hatten keine Türen. Brunetti sah in eins hinein und stellte fest, dass es vollkommen leer war; umso auffälliger glänzten Fenster und Fußboden. Und plötzlich spürte er, wie kalt es hier war, wie die Kälte aus den Wänden drang.
Das letzte Zimmer bot in der Tat eine prächtige Aussicht, war aber so karg möbliert - ein Tisch und zwei Stühle -, dass man meinen konnte, es sei unbewohnt, und nur Kaufinteressenten würden hier noch herumgeführt. In der Ferne wölbten sich die Kuppeln von San Marco, wo die Kreuze sich mit ihren winzigen Kugeln in den Himmel reckten, und dahinter sah Brunetti die Flügel des Engels, der über das bacino blickte. Hinter ihm sagte Morandi: »Maria hat hier oft stundenlang gestanden. Der Anblick hat sie glücklich gemacht. Am Anfang jedenfalls.« Er stellte sich neben Brunetti, und gemeinsam betrachteten sie die Symbole der Macht Gottes und der Macht des Staates. Brunetti dachte beeindruckt an die Majestät, die diese Dinge einst ausgestrahlt hatten; und wie wenig heute noch davon übrig war.
»Signor Morandi«, sagte er so förmlich, als sei nach der Beichte des alten Mannes kein persönlicheres Verhältnis zwischen ihnen entstanden, »ist es Ihnen wirklich ernst damit, dass Sie sich bessern wollen?«
»O ja«, antwortete er eifrig, ähnlich wie vor Jahren Brunettis Kinder, wenn sie sich auf den Katechismusunterricht vorbereiteten.
»Keine Lügen mehr?«, fragte Brunetti.
»Nie mehr.«
Brunetti musste an Denksportaufgaben denken, die sie in der Schule bekommen hatten. Zum Beispiel die, wo ein Huhn, ein Fuchs und ein Sack Reis über einen Fluss gebracht [314] werden sollten; oder die mit den neun Perlen auf einer Waage; oder die mit dem Mann, der immer log. An die Rätsel konnte er sich noch vage erinnern, aber die Lösungen hatte er vergessen. Wenn Morandi immer log, wäre seine Behauptung, nie mehr lügen zu wollen, demnach eine Lüge?
»Schwören Sie beim Herzen von Maria Sartori, dass Sie lediglich die Hände auf Signora Altavillas Schultern gelegt und ihr in keiner Weise weh getan haben?«
Der Mann neben ihm schwieg. Wie jemand, der eine Tai-Chi-Übung beginnt, ließ er die Arme locker nach unten fallen und hob dann langsam die Hände, Handflächen nach unten, bis in Schulterhöhe. Doch statt sie jetzt nach hinten zu ziehen, um sie einer unsichtbaren Kraft entgegenzustemmen, legte er sie ruhig auf etwas Unsichtbarem vor sich ab. Dann krümmte er die Finger, und als er sah, dass Brunetti alles mitbekommen hatte, ließ er die
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