Inkarnationen 04 - Das Schwert in meiner Hand - V3
1. Kapitel
Mym, der Mime
Es war einer dieser kleinen Wanderzirkusse, der über die Dörfer zieht und für ein paar Rupien
eine Vorstellung gibt. Man hatte nicht viel zu bieten: einen angeketteten Drachen, der aus den
Nüstern Rauchwolken ausstieß und manchmal sogar, auf ein Zeichen seines Dompteurs hin, Feuer
spuckte; eine Harpyie, die in einem Käfig saß, gefährlich mit den Schwingen schlug und die
Zuschauer mit furchtbaren Beschimpfungen belegte; und in einem Tank schwamm eine Meerjungfrau,
die gegen ein kleines Entgelt den Kopf aus dem Wasser streckte und dem Zuschauer einen Kuß gab.
Keine Attraktionen oder Sensationen also, aber die Kinder hatten ihren Spaß an den Vorstellungen.
Der Drache war uralt und schon reichlich verrunzelt, die Harpyie war abstoßend häßlich, und die
Meerjungfrau war zwar hübsch, aber sie sprach leider keinen einzigen der lokalen Dialekte.
Waren die Vorführungen auch nicht eben erstklassig, so boten sie doch den Dörflern eine angenehme
Abwechslung und kosteten sie nicht viel Eintritt. Kein Wunder, daß sie in Massen
heranströmten.
Ein unauffälliger Mann stand etwas abseits und beobachtete alles. Er war nur unwesentlich mehr
als durchschnittlich groß, trug einen abgewetzten grauen Schal und machte nicht ein einziges Mal
den Mund auf. Er hatte sich offensichtlich das Gesicht verletzt, denn es lag größtenteils unter
schmutzigen Bandagen verborgen; nur die Augen, die Nase und der Mund waren zu erkennen. Er trug
das Zeichen der Shudra-Kaste (Die unterste der vier großen Hindukasten - Anm. d. Ü.), obwohl man
ihn durchaus für einen Indoeuropäer halten konnte. Da keiner der Wiedergeborenen sich jemals
freiwillig unter die kleinen Händler und Arbeiter mischen würde, die nur einmal geboren waren,
mußte dem Fremden irgendein Unglück widerfahren sein.
Zwar war das Kastensystem in den meisten Königreichen Indiens abgeschafft worden, doch was
gesetzlich beschlossen ist, setzt sich nicht unbedingt immer in der Realität durch. Man brauchte
nur einmal zuzusehen, wie jemand reagierte, wenn er ohne Absicht von einem Paria, einem
Unberührbaren, berührt wurde; dann wußte man, wie tief das Kastensystem noch im Volk verwurzelt
war.
In der Manege traten jetzt die Artisten auf. Ein Zauberer führte allerlei Kunststücke vor. Er
ließ in Rauchwolken Dämonengesichter erscheinen, und dann flog ein Vogelschwarm aus seinem Hut.
Einer der Vögel ließ etwas auf den Kopf eines Zuschauers fallen. Der beschwerte sich lautstark,
woraufhin der Zauberer den Vogel mittels einer Handbewegung in eine Goldmünze verwandelte, die zu
Boden fiel und davonrollte. Der Zuschauer stürzte ihr nach, doch noch bevor er sie erreicht
hatte, verwandelte sich die Münze in eine Giftschlange, die zischte und nach ihm schnappte.
Die Menge lachte laut und freute sich über diesen Schabernack.
Als nächstes stand eine exotische Tänzerin auf dem Programm, die sich von einer Riesen-Python
begleiten ließ und wellenförmige Bewegungen vorführte. Ihre Darbietung war erst in zweiter Linie
von künstlerischer Bedeutung. An erster Stelle standen ihre erotischen Darbietungen, und der
Anteil der männlichen Zuschauer vergrößerte sich zusehends. Dann öffnete die Python ihr Maul und
verschluckte die linke Hand der Tänzerin. Sie setzte ihren Tanz fort, während das Reptil ihren
Arm, ihre Schulter, ihren Kopf und schließlich ihren Leib verschlang. Großer Applaus brandete
auf, als endlich auch die strampelnden Füße im Maul verschwanden und die Schlange schwerfällig
hinter den Vorhang zu ihrem Käfig glitt.
Dann betrat eine atemberaubend schöne junge Frau die kleine Bühne. Ihre Haut war so hell, daß sie
fast schneeweiß schien, und ihr Haar hatte die Farbe von Honig. Sie trug eine kleine Harfe im
Arm, ließ sich auf einem Hocker nieder und begann, das Instrument anzuschlagen und zu singen. Der
Text war in Englisch, und diese Sprache wurde hier zwar weitestgehend, aber längst nicht von
allen verstanden. Ein englisches Lied, das hatte man in dieser Gegend noch nie gehört, und so
schwieg die Menge erwartungsvoll.
Die anmutige Musik nahm die Zuhörer gefangen.
Eine unbeschreibliche Schönheit lag in diesem Lied und der Art, wie es vorgetragen wurde; und
dieser Anziehungskraft konnte sich niemand entziehen, selbst diejenigen nicht, die kein Wort
Englisch verstanden. Es war, als würde ein großes Orchester spielen und von einem Engelschor
begleitet, obwohl sich auf der Bühne doch
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