Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
rüttelte an den Fensterläden und ich tastete unwillkürlich nach Agnès Hand. Ihre Finger verschränkten sich in meinen und ich hielt sie fest. Die Glühbirne der Stehlampe flackerte.
„Ich weiß es nicht.“ Großmutter nahm noch einen Schluck Sherry. „Ich wünschte, ich wüsste es.“
Der Wind pfiff ums Haus und vor dem Fenster krachte etwas mit mächtigem Gepolter gegen die Hauswand. Johnny Cash sprang von seiner Decke und bellte die Tür an. Ich stand auf und kraulte ihn hinter den Ohren. Langsam legte ich meine Hand auf die Türklinke.
„Nein!“ Die Stimme meiner Großmutter hielt mich zurück. „Noch nicht. Nicht heute Nacht“, fügte sie hinzu. Sie nahm meine Hand und zog mich von der Tür weg. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.“
„Aber Rosie, ich will doch nur nachsehen was …“
Sie schüttelte den Kopf. „Das war sicher nur die Dachrinne, die Halterungen waren lose.“
Wir setzten uns wieder hin, ich lauschte nach draußen, aber bis auf den Wind war nichts Ungewöhnliches zu hören.
„Also wo waren wir?“ Mit einem Schnaufen rückte sie ihr Kissen zurecht und machte es sich in ihrem Sessel bequem. Mir fiel auf, wie abgegriffen der Bezug war, und wie bleich Großmutters Hände, die liebevoll über die Armlehnen strichen. „Ach ja, ich erinnere mich. Das Mädchen kauerte an dem Baumstamm und hörte die aufgebrachten Rufe der Dorfbewohner. Sie konnte schon das Licht der Fackeln durch die Büsche schimmern sehen. Der Wind hob an und wehte ihr Strähnen ihrer langen Haare in die Augen. Ein Lachen rauschte aus dem Blätterdach der Buche zu ihr herab.“
Meine Nackenhärchen stellten sich auf. Ich fröstelte. Agnès legte mir den Arm um die Schulter. Großmutter schenkte sich Sherry nach und gähnte herzhaft.
„Das Lachen entfernte sich“, fuhr sie nach einem großen Schluck fort, „und das Mädchen folgte ihm, den Pulk aus Stimmen und Fackelschein dicht auf den Fersen. Sie wagte nicht, sich umzusehen, so nahe waren die Verfolger. Ihre Schritte hallten gedämpft auf dem moosigen Waldboden. Schweiß tropfte in ihre Augen, sie konnte kaum noch erkennen, wohin sie rannte. Die wütenden Schreie hatten sie fast erreicht. Sie strauchelte und klammerte sich an einem dornigen Busch fest. Ihr Herz raste, Tränen rannen ihre Wangen hinab. Direkt vor ihr tat sich ein Abgrund auf, in der Tiefe brauste ein dunkler Fluss. In wenigen Sekunden hätten ihre Verfolger sie erreicht. Sie war verloren! Es gab keinen Ausweg. Der Wind riss an ihren Kleidern, zerrte grob an ihren Haaren. Das Lachen rauschte über ihren Kopf hinweg, entfernte sich und kehrte zurück. Sie kroch näher an den Abgrund heran. Suchte die Tiefe mit den Blicken ab. Kein Vorsprung, auf dem sie sich hätte verstecken können. Nichts. Da! Der zornige Schrei durchfuhr sie wie ein Messerstich. Da ist sie! Das Mädchen schloss die Augen; hielt ihre Hände in den Wind. Und dann war alles ganz leicht. Schwerelos. Und frei.“
Großmutters Kopf sank auf die Brust. Sie betrachtete ihre Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen.
Ich rührte mich nicht, wollte sie nicht stören, auch wenn ich auf dem Sofa wie auf glühenden Kohlen saß. Ich drückte Agnès Hand viel zu fest. War das Mädchen gesprungen?
„Großmutter?“, flüsterte ich. „Ist alles in Ordnung?“
Ein leises Schnarchen drang aus dem Sessel und ich stöhnte. „Das darf doch nicht wahr sein!“ Ich nahm die Wolldecke von der Sofalehne und legte sie über Großmutters Beine. Der Wind hatte sich gelegt, die Fensterläden klopften nur noch sporadisch an die Hauswand. Johnny winselte und ich nahm seine Leine vom Haken neben der Tür. Ich reichte Agnès einen von Großmutters Mänteln und zog mir selbst einen über. Dann nahm ich die Taschenlampe von der Kommode und steckte sie in die Manteltasche.
„Lass uns ein paar Schritte mit dem Hund gehen und anschließend das Abendessen machen.“
Agnès hakte sich bei mir unter. Ich öffnete die Tür und hielt den Atem an. Dicke Schneeflocken tanzten im Wind, wirbelten wie Mücken durcheinander. Der Boden war schon mit einer dicken weißen Schicht bedeckt. Agnès legte ihren Kopf in den Nacken und fing einige Flocken mit der Zunge auf.
Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete die klare kalte Luft ein. Meine Gedanken waren immer noch bei dem Mädchen. Auch wenn es nur eine von Großmutters Geschichten war, ihr Schicksal ließ mich nicht mehr los. Ob sie wohl entkommen würde? Und das Lachen, dem sie gefolgt war, war
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