Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
klang belegt. „Du kannst mit dem Theater aufhören. Du wolltest mich verletzen, es hat funktioniert. Herzlichen Glückwunsch!“
Sie warf mir das Bild in den Schoß und stapfte davon. Ich betrachtete noch einmal die Szene. Was konnte Lizzie nur so aufgebracht haben? Da war doch nichts zu sehen, was mit ihr zu tun hatte. Da waren Jungen mit Taschenlampen, eine Mauer. Ich drehte das Bild hin und her. Was war das? Ich veränderte den Blickwinkel erneut und es schien, als bewegte sich die Mauer. Nein, nicht die Mauer, etwas darauf. Ein Schatten, die Umrisse einer Person. Ich kniff die Augen zusammen und sah nur noch Stein. Egal, wie ich das Gemälde auch drehte, es blieb leblos. Eine Sinnestäuschung, natürlich, was sollte es auch sonst gewesen sein? Aber vielleicht hatte Lizzie das Gleiche gesehen?
Ich erinnerte mich daran, wie Agnès‘ Bilder dieses Gefühl von Lebendigkeit ausgestrahlt hatten. Sie würde mir sicher helfen können. Sehr wahrscheinlich hatte sie auch dieses Bild gemalt. Ich musste Licht in dieses neblige Dunkel bringen.
Entschlossen klemmte ich mir das Bild unter den Arm und ging zielstrebig auf Agnès‘ Haus zu. Vor ihrer Tür zögerte ich, atmete mehrmals tief durch. Ich würde ganz sachlich bleiben und versuchen herauszufinden, was es mit den Bildern auf sich hatte. Sonst nichts. Ich drückte die Klinke hinunter, die Tür war unverschlossen, genau wie ich erwartet hatte.
Im Haus war niemand zu sehen. „Agnès?“ Keine Antwort. Ich sah in der Küche nach. Über dem Feuer hing ein Kessel, in dem Wasser kochte. Auf dem Tisch stand eine Kanne mit Teeblättern. Kurz entschlossen legte ich das Bild auf den Tisch, nahm eine Schöpfkelle von der Wand und goss den Tee auf. Der Raum füllte sich mit aromatischem Dampf. Salbei und Zitronenmelisse. Agnès würde sicher bald zurück sein. Ich setzte mich auf einen Stuhl ans Feuer und wärmte meine Hände. Es war kälter geworden, der Winter stand vor der Tür, auch wenn die Bäume noch nicht alle Blätter abgeworfen hatten. Die Flammen tanzten wie Nordlichter durch den Kamin. Es war noch nicht Mittag, aber ich wurde schläfrig. Es musste an der Wärme liegen. Ich verschränkte meine Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.
Als mich jemand an der Schulter berührte, schreckte ich herum. Agnès hielt das Bild in der Hand. Fast zärtlich strichen ihre schmalen Finger über die unregelmäßige Oberfläche der Leinwand, aber ihre Blicke wirkten bedrückt, ihre Stirn lag in Falten.
„Kannst du mir helfen?“, flüsterte ich. „Ich muss es verstehen.“ Ich machte eine ausladende Geste. Es schien alles richtig zu sein und doch nicht wirklich zusammenzupassen. „Das alles hier. Das Dorf, die Bilder … Du.“
Agnès legte mir einen Finger über die Lippen. Ihre Berührung ließ mich sofort alle guten Vorsätze in den Wind schlagen. Ich legte ihre Hand an meine Wange. Ihre Haut war warm und vertraut. Sie strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, dann führte sie meine Hand zu dem Bild, drückte sie direkt auf die Mauer. Ich schnaufte. Das war unmöglich, aber ich hatte kalten Stein gespürt, und einen Windhauch, der über meine Fingerspitzen strich. Ich berührte die Leinwand ein zweites Mal, fühlte die kantige Oberfläche. Meine Haut wurde blasser, begann durchscheinend zu werden. Ein Kribbeln in meinen Fingern. Ich lachte auf und Agnès zog meine Hand zurück.
„Das ist unmöglich“, sagte ich. „Eine Sinnestäuschung?“
Sie schüttelte den Kopf, zog mich ins Wohnzimmer. Auf dem Kaminsims stand noch das Bild vom Vortag. Die Waldlichtung bei Nacht. Ich erinnerte mich an den Uhu und daran, wie er über meinen Kopf geflogen war. Das kühle Moos an meinem Rücken. Fasziniert starrte ich auf die Szene und durch die Baumkrone blitzte ein Strahl Mondlicht. Dann war das wirklich passiert? Aber das konnte doch nicht sein. Agnès trat hinter mich, schlang ihre Arme um meinen Bauch. Sie küsste meinen Nacken.
Agnès‘ Hände und Nachtluft. Mein Körper vibrierte, meine Knie zitterten, ich stützte mich an einem Baumstamm ab, drückte den Rücken durch und sah den Mond, wie er sich über die Bäume schob und die Lichtung in silbernes Schimmern tauchte. Der Uhu schrie einmal und ließ sich von seinem Ast fallen, glitt lautlos über unsere Köpfe hinweg und verschwand im dichten Wald.
Ich drehte mich zu Agnès um. Ihre Augen hatten die Farbe von Seewasser bei Nacht angenommen, schimmerten feucht. Sie rieb ihre Wange an meiner. Ihr Atem fing sich in
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