Crash
Science-fiction-Literatur, die weit davon entfernt ist, ein unbedeutender Ableger zu sein, im Grunde genommen die bedeutendste literarische Traditi on des zwanzigsten Jahrhunderts repräsentiert, ganz gewiß aber die älteste - eine Tradition der imaginativen Reaktion auf Wissenschaft und Technologie, deren ununterbrochener Verlauf direkt von H. G. Wells und Aldous Huxley über die zeitgenössischen amerikanischen Science-fiction-Schrift steller zu solchen modernen Erneuerern wie etwa William Burroughs führt.
Die bedeutendste »Tatsache« des zwanzigsten Jahrhun derts ist das Konzept der unbegrenzten Möglichkeiten. Die ses Prädikat von Wissenschaft und Technologie umfaßt das Faktum eines Moratoriums der Vergangenheit -Irrelevanz und Tod der Vergangenheit - und grenzenloser Alternativen, die der Gegenwart offenstehen. Was den ersten Flug der Gebrüder Wright mit der Erfindung der Pille verbindet, ist die soziale und sexuelle Philosophie des Schleudersitzes.
Nimmt man diesen immensen Kontinent der Möglichkeiten als gegeben, so kann man sich kaum eine Literatur vorstel len, die besser ausgerüstet ist, sich mit diesen Fragen ausei nanderzusetzen, als die Science-fiction. Keine andere Form der Literatur verfügt über das Vokabular an Einfällen und Vorstellungsbildern, um sich mit der Gegenwart zu befassen, ganz zu schweigen von der Zukunft. Beherrschendes Cha rakteristikum eines modernen Mainstream-Romans ist ein Gefühl individueller Isolation, eine Stimmung der Verinner lichung und Entfremdung, ein Geisteszustand also, der grundsätzlich als Kennzeichen des Bewußtseins im zwanzigsten Jahrhundert gilt.
Ganz im Gegenteil. Für mich ist das eine Psychologie, die gänzlich dem neunzehnten Jahrhundert angehört, da sie Teil der Reaktion gegen die ungeheuren Belastungen der bour geoisen Gesellschaft, den monolithischen Charakter des Viktorianismus und die Tyrannei des Pater familias, der aufgrund seiner finanziellen und sexuellen Autorität sicher war, ist. Abgesehen von deutlichen retrospektiven Neigun gen und der Besessenheit von der subjektiven Natur der Erfahrung, ist das eigentliche Thema die Rationalisierung von Schuld und Entfremdung. Elemente dessen sind Verin nerlichung, Pessimismus und Intellektualismus. Doch wenn etwas dem zwanzigsten Jahrhundert angemessen ist, so ist es Optimismus, die Ikonographie von Massenhandel, Naivität und unschuldiger Freude an den Möglichkeiten des Geistes.
Die Art der Phantasie und Vorstellungskraft, die sich der zeit in der Science-fiction-Literatur manifestiert, ist nicht neu. Schon Homer, Shakespeare und Milton erfanden neue Welten, um unsere zu kommentieren. Die Abspaltung der Science-fiction in ein separates und wenig geachtetes Genre ist eine jüngste Entwicklung. Sie steht in enger Beziehung zum allmählichen Aussterben dramatischer und philosophi scher Poesie und dem langsamen Schwund des traditionellen Romans, der sich in zunehmendem Maße ausschließlich mit den Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen beschäf tigt. Unter den Themen, die der traditionelle Roman fast ganz ausklammert, wäre zu allererst die Dynamik menschli cher Gesellschaften zu nennen (der traditionelle Roman neigt dazu, die Gesellschaft als statisch anzunehmen), des weiteren den Platz der Menschheit im Universum. So schlecht und naiv sie auch sein mag, bemüht sich die Scien ce-fiction wenigstens, die bedeutendsten Ereignisse unseres Lebens und unseres Bewußtseins in einen philosophischen und metaphysischen Rahmen einzubetten.
Wenn ich in dieser Form der Science-fiction-Literatur eine Lanze breche, so liegt das teilweise natürlich auch daran, daß sich meine eigene schriftstellerische Laufbahn seit nun mehr fast zwanzig Jahren innerhalb dieses Genres bewegt. Doch schon zu Beginn, als ich mich der Sciencefiction zu wandte, war ich der Überzeugung, daß die Zukunft einen besseren Schlüssel zur Gegenwart bietet als die Vergangen heit. Damals war ich aber auch schon unzufrieden mit der Besessenheit der Science-fiction für zwei grundlegende Themen - Weltraum und ferne Zukunft. Ich selbst nannte das neue Terrain, das ich bearbeiten wollte, sowohl aus emble matischen als auch aus theoretischen oder programmati schen Gründen, mit der Bezeichnung »inner space« (Innen welt/Innenraum) und meinte damit jene psychologische Do mäne - die etwa in der surrealistischen Malerei zum Aus druck kommt -‚ wo die Innenwelt des Verstandes und die Außenwelt der Realität einander begegnen und aufeinander
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