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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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aufgeben?»
    «Jetzt verstehe ich, dass man euch misstraut.»
    «Der Hass entspringt vor allem der Tatsache, dass wir nun, da wir Katholiken sind, die gleichen Rechte haben wie sie. Sie hatten ihre Jagdreviere, Berufe, die nur ihnen zugänglich waren. Nach und nach fassen wir darin Fuß. Freilich nehmen sie unsere Konkurrenz nicht kampflos hin.»
    Plötzlich schämte ich mich. Ich hatte das Wichtigste vergessen:
    «Wie geht es deinen Kindern?»
    Mehr als zwanzig Jahre waren seit Meister Andreas Werkstattvergangen, sie waren zwangsläufig groß geworden und hatten ihre Eltern verlassen. Doch ich suchte ihre Spuren in diesem Haus, und mit einem Mal fühlte ich eine große Leere.
    Mein Blick kehrte zu Samuel zurück. Er weinte.
    Er weinte lange, ohne Tränen.
    Ich hatte meine Hand auf seine Schulter gelegt.
    Turteltauben waren hergekommen. Als teilten sie sein Leid.
    Schließlich fuhr er mit seiner Erzählung fort:
    «1493 entdeckten unsere Kapitäne mitten im Golf von Guinea Land. Sie nannten es Île dos Logartos, Eidechseninsel, später wurde daraus Saõ Tomé. In Wahrheit waren diese Eidechsen Krokodile. König Johann II. beschloss dennoch, diese neue Kolonie zu besiedeln. Er schickte Sklaven hin, Galeerensträflinge und zweitausend jüdische Kinder, die man ihren Familien entrissen hatte. Die meisten sind gestorben. Ich weiß nicht, was aus meinen geworden ist. Entschuldige mich.»
    Er stand auf.
    «Luis wird dir dein Zimmer zeigen.»
    Und er verschwand. Ich hatte nicht bemerkt, dass er, der früher so gut im Fleische stand, beinahe beleibt war, so viel Gewicht verloren hatte. Seine Schritte hinterließen keine Spur im Sand des Weges. Die Tauben folgten ihm. Ich ließ diesen Schatten verschwinden, dann erkundigte ich mich bei Luis, was aus der Frau meines Freundes geworden war.
    «Das Warten hat sie umgebracht.»
    Nach diesem neuerlichen Schlag holte ich tief Luft.
    «Und was ist mit Lissabon, das sonst so lieblich war? Was ist der Grund für den heutigen Wahnsinn?»
    Luis sprach mit leiser Stimme, als wagte er noch nicht, seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
    Einen Monat zuvor, am 19. April, hatte eine Frau beim Gebet in der Kirche Saõ Domingo goldene Sterne aus dem großen Kruzifix herauskommen sehen. Hunderte Menschen waren herbeigeeilt, um dieses Wunder zu erleben. Unter ihnen befand sich ein Konvertit. Er war so verrückt zu murmeln, ein einfaches Kreuz,das in Wirklichkeit ein Stück Holz war, sei nicht in der Lage, Wunder hervorzubringen.
    Unverzüglich prügelte man ihn windelweich, zerrte ihn nach draußen, schlug ihn auf dem Vorhof tot und verbrannte ihn auf einem improvisierten Scheiterhaufen, zusammen mit zweien seiner Brüder, die ihm zu Hilfe geeilt waren.
    Seitdem verheerten Feuer und Schwert die Stadt.
    Am nächsten Tag öffnete ich zum großen Schrecken meines Gastgebers Samuel, den ich sogar abwehren musste, die drei Riegel und schlüpfte hinaus.
    Es war keine Ruhe eingekehrt. Ich ging die Straße hinauf, dorthin, wo der lauteste Lärm herkam, zur Kirche Santa Maria Madalena. Die Menschenmenge war so riesig, dass sie über den Vorplatz auf den Platz hinausreichte. Obwohl ich wie alle Seeleute in Menschenmengen fast ersticke und das dichte Aneinandergedränge der Leiber hasse, kämpfte ich mich bis ins Querschiff vor. Auf der Kanzel wetterte ein weiß gewandeter Mann:
    «Häresie! Häresie!»
    Die Menge brüllte im Chor:
    «Häresie! Häresie!»
    «Reinheit! Reinheit!», schrie der Mann in Weiß.
    Und die Menge skandierte:
    «Reinheit! Reinheit!»
    Der Prediger nutzte das Aufbranden der Rufe, um noch lauter zu brüllen:
    «Vernichtet sie! Ja, vernichtet dieses abscheuliche Volk!»
    «Vernichten wir sie! Ja, vernichten wir sie!»
    Dann beschrieb der Prediger mit dem Kopf einen großen Kreis und betrachtete dabei die Zuhörer:
    «Worauf wartet ihr?»
    «Ja, worauf warten wir!»
    Und die Menge stürzte zum Ausgang und schrie noch lauter:
    «Häresie, Häresie! Auf den Scheiterhaufen mit ihnen! Reinheit! Reinheit für Lissabon! Tötet sie! Tötet sie!»
    Ebenso entsetzt wie von Ekel erschüttert, ließ ich mich vom Strom mitreißen.
    Die Gewalttaten, die unsere spanische Insel in Blut getaucht hatten und die ich in den Jahren, die ich dort regierte, nicht verhindern konnte oder wollte, erlebte ich jetzt hier wieder, dieselben, genau dieselben Taten und ähnliche Opfer im sanften, ach so lieblichen Lissabon: eine eingeschlagene Haustür, eine Meute Menschen, die ins Haus stürzt, eine Frau, die man an

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