Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
mit an Bord nimmt.
Ohne etwas von den Angriffen zu ahnen, die kurz darauf meine Seele verwüsten und meine Heiterkeit zerrütten sollten, machte ich mich auf den Weg in die Kirche.
Die Messe begann.
In meiner Lage war es schwer zu beten: Ich saß in der ersten Reihe zwischen dem Vizekönig Diego und seiner Frau María de Toledo, und alle Blicke richteten sich auf mich. Möge Gott mir verzeihen. Statt mich Ihm und nur Ihm zuzuwenden, war ich ständig damit beschäftigt, Grüße zu erwidern. Plötzlich schreckte ich auf. Ein Dominikaner war auf die Kanzel gestiegen und begann seine Predigt:
Ich bin die Stimme Jesu Christi, der in der Wüste dieser Insel ruft…
Ich bin die Stimme Jesu Christi, der in der Wüste dieser Insel ruft (…), diese Stimme sagt, dass ihr alle im Zustand der Todsünde lebt wegen der Grausamkeit und der Tyrannei, die ihr gegen dieses unschuldige Volk walten lasst.
Satz für Satz gewann die Stimme an Kraft, und die einzelnen Worte wurden deutlicher. Es war, als ob sie sich in ebenso viele Steine verwandelten, die man uns ins Gesicht schleuderte.
Sagt mir, im Namen welchen Rechts und welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indianer in so grausamer und so schrecklicher Knechtschaft? Wer hat euch erlaubt, gegen diese Völker, die in ihrem Land friedlich lebten, solch verabscheuungswürdige Kriege zu führen, in denen zahllose von ihnen gestorben sind? (…) Warum haltet ihr sie in einem solchen Zustand der Unterdrückung und Auszehrung, ohne ihnen zu essen zu geben, ohne die Krankheiten zu behandeln, an denen sie leiden und sterben aufgrund der maßlosen Arbeit, die ihr ihnen abverlangt, während ihr sie für den Abbau von Gold Tag für Tag einfach umbringt?… Sind diese Indianer denn keine Menschen? Haben sie denn keinen Verstand und keine Seele? Hat man euch nicht geboten, sie zu lieben wie euch selbst? (…) Warum schlaft ihr in so tiefer Erstarrung? Seid gewiss, dass ihr in dem Zustand, in dem ihr euch befindet, eure Seelen ebenso wenig retten könnt wie die Mauren und die Türken, die den Glauben an Jesus Christus ablehnen.
So lautete an jenem Tag die Predigt von Bruder Antonio de Montesinos. Vor allen Herren von Hispaniola, vor allen
Encomenderos,
den Spaniern also, denen man das Land der Indianer gegeben hatte und dazu noch die Indianer selbst, um es zu bebauen.
Die Verblüffung der Anwesenden schlug schnell in Wut um.
Blicke wanderten hin und her zwischen dem Prediger, der diese schrecklichen Worte aneinanderreihte, und dem Vizekönig, der sich bemühte, die Fassung zu bewahren.
Es bedurfte der ganzen Autorität des Priesters, der die Messelas, damit diese ohne Aufstand der Gläubigen beendet werden konnte.
Nach der Rückkehr in unseren Palast befahl der Vizekönig unverzüglich den Dominikaner zu sich, von dem bis dahin niemand etwas gehört hatte, und er las ihm väterlich die Leviten: Jeder von uns könne sich, wenn er schlecht informiert sei, dazu hinreißen lassen, Unwahrheiten zu verkünden. Wer wollte es ihm verübeln, dass er einem Irrtum aufgesessen sei, weil es ihm an Informationen gemangelt habe? Im vorliegenden Fall fehle es an Wissen darum, dass die Arbeit der Indianer für die Erschließung der Insel, also zu Spaniens Ruhm, unverzichtbar sei. Da er nun vollständig in Kenntnis gesetzt worden sei, müsse der Prediger, dem übrigens jedermann Bewunderung für sein Talent und Verständnis für seine Erregung entgegenbringe, am kommenden Sonntag eine Predigt von gänzlich anderer Natur halten als die vorausgegangene, geeignet, der Bevölkerung einen Frieden wiederzugeben, der Seiner Majestät dem König besonders am Herzen liege…
Ohne ihm Zeit für eine Erwiderung zu geben, stellte Diego mich vor: Bartolomeo, mein Onkel, der Bruder des Admirals und erster Gouverneur dieser Insel in den Jahren 1496 bis 1500.
Montesinos fuhr hoch.
Er sah mir direkt in die Augen und sagte nur ein Wort:
«Warum?»
Schon drängte ihn der Vizekönig hinaus.
«Ich zähle auf euch, Bruder Antonio. Das Gleichgewicht hierzulande ist empfindlich. Jeder muss wissen, wo er hingehört.»
Als Montesinos den Mund zur Antwort öffnete, wurde er hinausbefördert. Und in der spanischen Oberschicht wartete jeder vertrauensvoll auf die nächste Sonntagsmesse, überzeugt, dass der Vorfall damit abgeschlossen sei.
Die ganze Woche über verfolgte mich dieses «Warum». Jedes Mal drängte ich es zurück. Jedes Mal kam es mir wieder in den Kopf, wie eine hartnäckige Wespe, jedes Mal bereitete
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