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Cristóbal

Cristóbal

Titel: Cristóbal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Orsenna
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von Indien eine beschränkte Anzahl von Graden, nämlich 78. Und zum anderen misst jeder Grad für ihn 56 2/3 Meilen. Zum Dritten aber verwendet er italienische Meilen, also die kürzesten. Wenn Ihr nichts mehr hinzuzufügen habt» – er machte eine Pause –, «erkläre ich die Sitzung unserer Kommission für beendet. Die Kommission wird Ihrer Majestät innerhalb von acht Tagen Bericht erstatten.»
    Ihre Majestät stand auf, ging entgegen allen Erwartungen mit strahlendem Lächeln auf meinen Bruder zu und fasste ihn, noch erstaunlicher, an beiden Händen. In der Totenstille, die wie durch ein Wunder plötzlich wieder eingekehrt war, versicherte ihn der König seiner Zuneigung und des Interesses, das er für sein Unternehmen habe, «von dem» – ich erinnere mich noch an jedes einzelne Wort – «Ihr mir gerne jederzeit noch einmal erzählen mögt».
    Bemerkenswerterweise muss man feststellen, dass die Mathematiker beim Hören dieser königlichen Artigkeiten sofort ein anderes Gesicht aufsetzten. Aus der Verachtung, die sie meinem Bruder entgegengebracht hatten, wurde Entgegenkommen. Sogar aus dem Mund des Allerschlimmsten, Meister Rodrigo, hörte ich ermunternde Worte:
    «Es würde genügen, Kapitän, wenn Ihr einige Berechnungen überdenkt, um von unserer Seite eine uneingeschränkt günstige Beurteilung Eures wundervollen Vorhabens zu erhalten.»
    So ist das menschliche Ohr veranlagt: Es hört die Stimme der Macht viel deutlicher als die der Überzeugung.
    An beider Wohlwollen, an das spontane des Königs und das anbiedernde der Kommission, klammerten wir uns, während wir auf die Entscheidung warteten.

 
     
     
     
    Zu unserem Leidwesen waren die Mathematiker nicht von höfischem, sondern von wissenschaftlichem Geist beseelt. Außer Sichtweite des Königs gewannen sie bei der Urteilsfindung ihre Würde wieder: «Die Berechnungen des Seefahrers Colombo mögen seinen persönlichen Zwecken dienen, doch keinesfalls der Wahrheit. Gewährte Ihre Majestät dieser Reise finanzielle Unterstützung, liefe die Krone große Gefahr, über ihren Einsatz hinaus die Wertschätzung ihrer vernünftigen Untertanen zu verlieren.»
    Johann II. rief meinen Bruder zu sich, legte ihm das Ergebnis der Kommission dar und äußerte sein Bedauern darüber. Doch angesichts des ausgezeichneten Rufes dieser Gelehrten könne er ihre Meinung nicht einfach übergehen. Er sagte ihm noch einmal, wie sehr er es bedauerte, überhäufte ihn mit Zeichen seiner Wertschätzung und seiner Zuneigung; und als er, welche Ehre, meinen Bruder zur Tür begleitete, bat er ihn, er möge ihm diese Entscheidung nicht verübeln und ihm die Treue halten.
    Statt ihn zu beschwichtigen, bewirkten diese edlen und einfühlsamen Worte bei meinem Bruder, dass seine Wut zur Raserei anschwoll.
    Am Abend hatte er seinen Entschluss gefasst. Für sich, aber auch für mich.
    Die Familie Colombo, die nicht dafür geschaffen war, Kränkungen einzustecken, konnte keinen Tag länger im Königreich Portugal bleiben, das sich echten Entdeckungen gegenüber so sehr verschloss.
    Zugegeben, wir benötigten noch eine Woche, um zu verkaufen, was man uns abkaufen wollte, den Laden zu schließen, kurz, die Koffer zu packen.
    So verließen wir am 17. Oktober 1484 mein geliebtes Lissabon. Ich halte mich gerne an dem Glauben fest, dass mein Eindruck von jenem Tag begründet war: Die Stadt schien ebenso traurig darüber zu sein, dass wir fortgingen, wie der König. Doch es stimmt, Lissabon schwelgt gerne in Trübsal. Wir reisten gemeinsam bis Coimbra, dann ritten wir getrennte Wege. Der Vater und der Sohn wandten sich Richtung Spanien. Ich schlug den Weg nach Porto im Norden ein. Als ich ihnen einen letzten Blick nachsandte, schnürte es mir das Herz zusammen.
    Mein Bruder hielt die Hand des kleinen Diego, der auf das fünfte Lebensjahr zuging. Ich hielt niemandem die Hand. Cristóbal hatte mir einen vagen Auftrag gegeben: die Sache seines Indien-Unternehmens an den Höfen der Könige von England und Frankreich zu vertreten.

 
     
     
     
    Hier endete mein Bericht. Ich kann Ihnen versichern, dass er meine beiden Dominikaner in Atem gehalten hat. Ich wurde kein einziges Mal unterbrochen. Drei Wochen lang, so lange hatte es gedauert, waren Las Casas und sein Schreiber Hieronymus täglich zur vereinbarten Stunde gekommen, als ob diese Geschichte ihr ganzes Leben ausmachte. Jeden Tag hatten sie die Kapelle durchquert und sich in meinem Zimmer eingefunden, hatten sich hingesetzt und mir

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