Dabei und doch nicht mittendrin
tolerant ein Individuum ist, lässt sich wiederum daran ablesen, wieviel Raum zur Entfaltung dem »intrapsychisch Anderen«, dem inneren Fremden, geboten wird. Denn gerade das Aufbegehren der Migranten (vor allem in der dritten Generation) zeigt ja, dass sie mit ihrer sozialen Position des Außenseiters nicht einverstanden sind, diese als unangemessen betrachten und andere Deutungen und Platzierungen einfordern, weil sie sich als Hiesige sehen.
3) »Aber unbestreitbar ist doch eine Re-Islamisierung zu beobachten!« Ein Tor, wer angesichts der hysterischen, fast zynischen Mobilmache gegen »Allahs rechtlose Töchter« und der medialen Geiselnahme des Bewusstseins daran nochzweifeln wollte. Schwer zu beantworten, doch empirisch eine lohnenswerte Fragestellung bleibt dabei die Überlegung, ob die »mittelalterliche Lebensweise« der Muslime, denen angeblich der Segen der europäischen Aufklärung fehlt, oder der latent gewaltförmige Panik-Diskurs der modernen, fast wahnhaften Aufklärer mehr Angst und Feindseligkeit schürt.
Gerade durch die Verschränkung des Integrationsdiskurses mit dem weltpolitisch neu entfachten Bedürfnis nach religiöser Distanzierung und Identifizierung scheinen vor allem Türkeistämmige prädestiniert zu sein, die Wut der vermeintlich aufgeklärten
ratio
auf sich zu ziehen. Unterstützt wird dieser emotionalisierte Blick auf den Islam dadurch, dass in der Öffentlichkeit kaum eine realitätsangepasste Auseinandersetzung mit ihm geführt wird. Eher erleben wir ein Schwanken zwischen Idealisierungen und Stilisierungen, sexuell überformten Haremsphantasien sowie Unterstellungen extremer Gewalttätigkeit und Bedrohungsszenarien (sie seien jederzeit bereit, für ihre Religion den Märtyrertod zu sterben und dabei möglichst viele Ungläubige mitzunehmen). Noch weniger angemessen ist vermutlich die Beschäftigung der hiesigen Muslime mit dem Christentum, die – analog zur Gnade der späten Geburt – aus der historischen Nachrangigkeit des Islam und einer gleichzeitig behaupteten Überlegenheit des eigenen Glaubens herrührt.
Generell können religiöse Weltdeutungen als Bemühungen verstanden werden, erlebten Zufälligkeiten einen Sinn zu geben, die erfahrene Fragilität und Zerbrechlichkeit des Alltags zu bearbeiten und sie in eine Ordnung, so etwa als Willen Allahs, als Schicksal (
Kismet
) einzurahmen. Solcherlei (geistige) Ordnung schützt letztlich vor krisenhaften Verunsicherungen in Zeiten sozialen Wandels. Insbesondere in der Minderheitensituation kann die Hinwendung zur Religion als eine Konstruktion von »symbolischer Heimat« verstanden werden, um sich im Glauben »gut aufgehoben« zu fühlen und weniger Heimweh zuempfinden. Religiosität kann also auch – jenseits der politischen Weltdeutung – als eine persönliche Ressource fungieren.
Bei aller Kritikwürdigkeit religiöser und im spezifischen auch islamischer Weltentwürfe gilt es, bleibt man seriös, Folgendes zu beachten:
Wir können weder das
Ideal
oder die normativen Vorstellungen einer Religion (hier des Islam) mit der
Realität
einer anderen Religion (des Christentums) vergleichen (Welche
Vorstellungen
hat der Islam und wie
handeln
die Christen in ihrem Alltag?), noch lässt sich ein religiöses Ideal der Realität des modernen, areligiösen oder liberalen Lebens gegenüberstellen.
Stellt man solche Bezüge her, klaffen stets enorme Lücken zwischen idealtypischen Konzeptionen und Kompromissen des Alltags; die Kritik verliert durch diesen unangemessenen Vergleich ihren Stachel.
Utopische Lebens- und Weltentwürfe entstehen in der Regel leichter dort, wo sie durch den pragmatischen Alltagsdruck wenig Korrektur erfahren; insofern scheint für rechte wie linke Ideologien von Migrantenorganisationen der Nährboden in Deutschland eher bereitet zu sein als in den Herkunftskulturen, in denen die bloße Bewältigung des Alltags die überschüssigen intellektuellen Energien auffrisst.
Populistische Vorschläge zur »Lösung von Integrationsproblemen«, wie etwa gewaltbereite Migrantenjugendliche oder fundamentalistische Muslime einfach auszuweisen, die in Wahlkämpfen nicht nur von rechten, sondern auch von bürgerlichen Parteien geäußert werden, tragen realistisch betrachtet kaum zu einer Besserung der Situation bei. Vielmehr schüren sie Ressentiments, deren Folgen oft für alle Beteiligten schädlich sind. Denn Schuldige an einer gesellschaftlichen Misere zu finden, ist einfach; befriedigt es doch individuelle und
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