Damon Knight's Collection 10 (FO 19)
Der neuerliche Ausbruch von Kinderruhr in einem halben Dutzend Krankenhäusern, bei dem bis jetzt hundertsiebenunddreißig Babies ums Leben gekommen waren. Die Grippe-Epidemie, die inzwischen jeden zehnten sterben ließ.
Martie rief um neun an. Er wollte gegen zwölf daheim sein. Noch ein paar Kleinigkeiten für die Abendsendung zu erledig gen. Nichts Besonderes. Sie versuchte ihm klarzumachen, daß er sich nicht um sie sorgen mußte, aber, sie merkte selbst, daß für ihn ihre fröhliche Stimme erzwungen klingen mußte, unecht. Er wußte, daß das Baby weinte, wenn der Wind so wie gestern ums Haus pfiff. Sie legte bekümmert auf, in dem Wissen, daß sie ihn nicht überzeugt hatte. Er glaubte nicht, daß sie gut geschlafen hatte, daß sie wirklich so fröhlich war, wie ihre Stimme klang. Sie starrte das Telefon an und wußte, daß es noch schwerer sein würde, ihm gegenüberzustehen und ihm klarzumachen, daß es ihr gut ging, und, vor allem, daß es dem Baby gut ging.
Martie schüttelte sie. „Liebling, hör mir zu! Bitte, hör mir jetzt nur zu! Du hattest einen Traum. Oder eine Halluzination. Du weißt das. Du kannst dich erinnern, wie es war, als du es zum ersten Mal hörtest. Damals hast du von einem Nervenzusammenbruch gesprochen. Dir war klar, daß du nicht wirklich das Baby gehört hattest, ganz gleich, welchen Streich dir deine Ohren spielten. Was hat sich jetzt geändert?“
„Ich kann es nicht erklären“, sagte sie. Wenn er sie nur loslassen würde! Die Angst in seinen Augen war echt und verzweifelt. „Martie, ich weiß, daß es solche Dinge nicht gibt, aber es ist dennoch geschehen. Ich öffnete die Tür zu irgendeinem fremden Raum, wo unser Baby lebt und gedeiht. Es ist gewachsen, und es hat jetzt Haare, schwarze Haare wie du, aber Locken wie ich. Eine Schwester kam herein. Ich jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein, Martie. Sie sah mich an, so wie du mich jetzt ansiehst. Es war alles wirklich.“
„Wir ziehen um. Wir nehmen wieder eine Wohnung in der Stadt.“
„Bitte. Wenn du willst. Es macht keinen Unterschied. Das Haus hat nichts damit zu tun.“
„Herrgott!“ Martie ließ sie plötzlich los, und sie stürzte beinahe. Er merkte es nicht. Er ging ein paar Minuten auf und ab, fuhr sich mit der Hand über die Augen, durch das Haar, über die Bartstoppeln. Sie wünschte, sie könnte etwas für ihn tun, aber sie rührte sich nicht. Unvermittelt wandte er sich wieder ihr zu: „Du kannst nicht wieder allein bleiben!“
Julia lachte sanft. Sie nahm seine Hand und preßte sie an ihre Wange. Er hatte eiskalte Finger. „Martie, sieh mich an! Wann habe ich im Laufe des letzten Jahres einmal impulsiv gelacht? Ich weiß, wie ich war, wie ich mich benommen habe. Ich wußte es die ganze Zeit, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte als Frau versagt, begreifst du das? Daß ich als Künstlerin Erfolg hatte, daß ich dir eine gute Partnerin war, das alles zählte nicht. Ich konnte kein Kind zur Welt bringen, das am Leben blieb. Das war mein einziger Gedanke. Er überfiel mich zu den peinlichsten Gelegenheiten, wenn wir Gäste hatten, wenn wir uns liebten, wenn ich den Meißel ansetzte oder einen Kuchen rührte. Peng, da war es. Und ich wünschte mir nichts als den Tod. Jetzt, seit heute nacht, fühle ich mich wieder am Leben, nachdem ich lange entsetzlich erstarrt war. Es ist schon gut so, Martie. Ich hatte ein Erlebnis, das niemand außer mir glauben kann. Es macht mir nichts aus. So ähnlich stelle ich mir eine Bekehrung vor. Man kann es niemandem erklären, der es nicht selbst erlebt hat, und man soll es auch nicht. Es war ein Fehler, daß ich es versuchte.“
„Mein Gott, Julia, weshalb hast du nie darüber gesprochen, was du mitmachtest? Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte, du seist allmählich darüber hinweggekommen.“ Martie nahm sie in die Arme und preßte sie zu heftig an sich.
„Du konntest nichts für mich tun.“ Ihre Stimme klang erstickt. Sie seufzte tief.
„Ich weiß. Das macht es ja so schrecklich.“ Er schob sie ein Stück von sich und sah ihr ins Gesicht. „Und du glaubst, daß es nun vorbei ist? Daß alles in Ordnung kommt?“ Sie nickte. „Ich weiß nicht, was geschehen ist. Es ist auch unwichtig. Mir genügt es, wenn du wieder gesund bist. Und nun wollen wir alles vergessen …“
„Aber es ist nicht vorbei, Martie. Es fangt erst an. Ich weiß jetzt, daß der Kleine lebt. Ich muß ihn finden.“
„Ich komm’ mit dem Traktor nicht in den Hof, Mrs. Sayre.
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