Der Besuch der alten Dame (German Edition)
Erster Akt
Glockenton eines Bahnhofs, bevor der Vorhang aufgeht. Dann die Inschrift: Güllen. Offenbar der Name der kleinen Stadt, die im Hintergrund angedeutet ist, ruiniert, zerfallen. Auch das Bahnhofgebäude verwahrlost, je nach Land mit oder ohne Absperrung, ein halbzerrissener Fahrplan an der Mauer, ein verrostetes Stellwerk, eine Türe mit der Aufschrift: Eintritt verboten. Dann, in der Mitte, die erbärmliche Bahnhofstraße. Auch sie nur angedeutet. Links ein kleines Häuschen, kahl, Ziegeldach, zerfetzte Plakate an der fensterlosen Mauer. Links Tafel: Frauen, rechts: Männer. Alles in eine heiße Herbstsonne getaucht. Vor dem Häuschen eine Bank, auf ihr vier Männer. Ein fünfter, aufs unbeschreiblichste verwahrlost, wie die andern, beschreibt ein Transparent mit roter Farbe, offenbar für einen Umzug: Willkommen Kläri. Das donnernde, stampfende Geräusch eines vorbeirasenden Schnellzuges. Vor dem Bahnhof der Bahnhofsvorstand salutierend. Die Männer auf der Bank deuten mit einer Kopfbewegung von links nach rechts an, daß sie den vorbeirasenden Expreß verfolgen.
DER ERSTE Die ›Gudrun‹, Hamburg–Neapel.
DER ZWEITE Um elfuhrsiebenundzwanzig kommt der ›Rasende Roland‹, Venedig–Stockholm.
DER DRITTE Das einzige Vergnügen, das wir noch haben: Zügen nachschauen.
DER VIERTE Vor fünf Jahren hielten die ›Gudrun‹ und der ›Rasende Roland‹ in Güllen. Dazu noch der ›Diplomat‹ und die ›Lorelei‹, alles Expreßzüge von Bedeutung.
DER ERSTE Von Weltbedeutung.
Glockenton.
DER ZWEITE Nun halten nicht einmal die Personenzüge. Nur zwei von Kaffigen und der Einuhrdreizehn von Kalberstadt.
DER DRITTE Ruiniert.
DER VIERTE Die Wagnerwerke zusammengekracht.
DER ERSTE Bockmann bankrott.
DER ZWEITE Die Platz-an-der-Sonne-Hütte eingegangen.
DER DRITTE Leben von der Arbeitslosenunterstützung.
DER VIERTE Von der Suppenanstalt.
DER ERSTE Leben?
DER ZWEITE Vegetieren.
DER DRITTE Krepieren.
DER VIERTE Das ganze Städtchen.
Zuggeräusch, der Bahnhofsvorstand salutiert. Die Männer verfolgen den Zug mit einer Kopfbewegung von rechts nach links.
DER VIERTE Der ›Diplomat‹.
DER DRITTE Dabei waren wir eine Kulturstadt.
DER ZWEITE Eine der ersten im Lande.
DER ERSTE In Europa.
DER VIERTE Goethe hat hier übernachtet. Im ›Gasthof zum Goldenen Apostel‹.
DER DRITTE Brahms ein Quartett komponiert.
Glockenton.
DER ZWEITE Berthold Schwarz das Pulver erfunden.
DER MALER Und ich habe mit Glanz die Ecole des Beaux-Arts besucht, doch was treibe ich jetzt? Inschriftenmalerei!
DER ZWEITE Höchste Zeit, daß die Milliardärin kommt. In Kalberstadt soll sie ein Spital gestiftet haben.
DER DRITTE In Kaffigen die Kinderkrippe und in der Hauptstadt eine Gedächtniskirche.
DER MALER Von Zimt, dem naturalistischen Schmierer, ließ sie sich porträtieren.
DER ERSTE Die mit ihrem Geld. Die Armenian-Oil besitzt sie, die Western Railways, die Northern Broadcasting Company und das Bangkoker Vergnügungsviertel.
Zugsgeräusch. Links erscheint ein Kondukteur, als wäre er eben vom Zuge gesprungen.
DER KONDUKTEUR mit langgezogenem Schrei Güllen!
DER ERSTE Der Personenzug von Kaffigen.
Ein Reisender ist ausgestiegen, geht von links an den Männern auf der Bank vorbei, verschwindet in der Türe mit der Anschrift: Männer.
DER ZWEITE Der Pfändungsbeamte.
DER DRITTE Geht das Stadthaus pfänden.
DER VIERTE Politisch sind wir auch ruiniert.
DER BAHNHOFSVORSTAND hebt die Kelle Abfahrt!
Vom Städtchen her der Bürgermeister, der Lehrer, der Pfarrer und Ill, ein Mann von fast fünfundsechzig Jahren, alle schäbig gekleidet.
DER BÜRGERMEISTER Mit dem Einuhrdreizehn-Personenzug von Kalberstadt kommt der hohe Gast.
DER LEHRER Der gemischte Chor singt, die Jugendgruppe.
DER PFARRER Die Feuerglocke bimmelt. Die ist noch nicht versetzt.
DER BÜRGERMEISTER Auf dem Marktplatz bläst die Stadtmusik, und der Turnverein bildet eine Pyramide zu Ehren der Milliardärin. Dann ein Essen im ›Goldenen Apostel‹. Leider reicht es finanziell nicht zur Beleuchtung des Münsters und des Stadthauses am Abend.
DER PFÄNDUNGSBEAMTE kommt aus dem Häuschen Guten Morgen, Herr Bürgermeister. Grüße recht herzlich.
DER BÜRGERMEISTER Was wollen Sie denn hier, Pfändungsbeamter Glutz?
DER PFÄNDUNGSBEAMTE Das wissen Herr Bürgermeister schon. Ich stehe vor einer Riesenaufgabe. Pfänden Sie mal eine ganze Stadt.
DER BÜRGERMEISTER Außer einer alten Schreibmaschine finden Sie im
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