Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
Blase zu entleeren.
Beim Angeln gab es eine eiserne Regel: Wenn nichts mehr ging, wenn die Fische schmollten und lieber unter ihresgleichen bleiben wollten, hieß es, erst einmal einen Strahl in die Ecke zu stellen. Das half immer. Deswegen konnten Frauen auch so schlecht angeln, wurde in Anglerkreisen gerne gemunkelt, schließlich würde ihnen dieser alles entscheidende Moment der Meditation und des Neuanfangs auf immer und ewig versagt bleiben. Festzementierte Anglerwahrheit.
Wo war bloß das nächste Gebüsch? Edwin Rast drehte seinen Kopf und spürte sogleich harten Beton an seiner Backe. Merkwürdig, dachte er. Aber vielleicht konnte man sich ja auch gleich an Ort und Stelle erleichtern? Während er die Möglichkeit noch reichlich benommen überdachte, schaute er nach unten. Prompt berührte seine Nase das Wasser. Verblüfft schreckte er wieder hoch. Wieso Wasser? Er stand doch. Er versuchte den Arm zu heben. Ging nicht. Das Bein? Fehlanzeige. Außerdem war alles an ihm nass und ihm arschkalt. Edwin Rast konzentrierte sich. Langsam, aber sicher vermutete er eine fremdbestimmte Einschränkung seiner momentanen Lebensqualität. Die Schlussfolgerung lag vor allem deshalb nahe, weil sein Kinn das Wasser berührte, Arme wie Beine gefesselt waren und sein Schädel dröhnte, als hätte ein islamistischer Selbstmordattentäter in seinem Kleinhirn einen Sprengstoffgürtel gezündet. Schräg gegenüber konnte er das andere Ufer, die Brückenpfeiler und die Sandsteinumrandung einer Friedhofsmauer erkennen. Schlagartig war er hellwach. Er wusste, wo er war.
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In den letzten Jahren waren am Obermain immer häufiger Kajak- und Kanufahrer gesichtet worden. Genauso wie Angler und sonstige Ufertouristen. Als der eine oder andere dann auch noch auf die Idee gekommen war, Boote gewerblich zu vermieten, gab es die ersten Reibereien mit der angelnden Zunft und den Naturschützern. Die einen zauberten den vom Aussterben bedrohten grau karierten Kieselpfeifer aus dem besagten Hut, die anderen wollten Biber und Quastenflosser wieder ansiedeln. Da der gleiche Konflikt an diversen anderen deutschen Flüssen nicht selten mit größeren Differenzen vor Gericht oder sonst wo zu enden drohte, beschloss man am Main, einen runden Tisch einzuberufen, um mit sämtlichen beteiligten Interessengruppen eine freiwillige Selbstvereinbarung zu entwerfen. Diese sah letztendlich vor, das Befahren durch Boote zeitlich einzuschränken und auch einen Mindestpegel des Wasserstandes festzulegen, damit bei Niedrigwasser nicht mehr eingebootet werden durfte. Zu diesem Zweck wurden große, runde Betonpfeiler an den Einstiegsstellen in den Main gerammt, die oben grün und unten rot gestrichen waren. Tauchte die rote Farbe am Pfeiler auf, hatte jedem Bootsfahrer klar zu sein, dass das Ende der Saison gekommen war. Zumindest bis zum nächsten Niederschlag. So stand es nun schwarz auf weiß geschrieben, und jedem einzelnen Punkt waren harte Verhandlungen der versammelten Outdoor-Lobbyisten vorangegangen. Aber die Vereinbarung war ausgearbeitet und wurde auch tatsächlich mit mehr oder weniger Überzeugung von den jeweiligen Vertretern in einem freiwilligen Akt unterzeichnet. Selbst der bayerische Umweltminister ließ sich schließlich zu einer werbeträchtigen Bootsfahrt auf dem neu geschaffenen Bootswanderweg auf dem Obermain hinreißen.
Trotzdem gab es in den Hinterzimmern noch immer Reibereien mit den Extremisten der jeweiligen Interessenverbände. Die militanten Verfechter absoluter Standpunkte, die durch nichts von ihren am Stammtisch generierten Meinungen abzubringen waren, diskutierten lauthals weiter. Doch Edwin Rast war kein Stammtisch-Gebildeter, er war der Agitator. Er hatte keine Meinung, er machte sie. An den Anglertischen, an denen er auftauchte, waren seine Worte für die meisten Gesetz. Unverrückbare Dogmen. Edwin Rast hatte das Abkommen bis aufs Blut bekämpft. Bootsfahrer waren für ihn das Ungeziefer der Gewässer, eine vom Antlitz der Erde zu tilgende Fehlentwicklung der Natur. Jeder Kompromiss war ihm in der Angelegenheit zuwider. Er war so lange von Pontius zu Pilatus, von Behörde zu Anwalt und Landrat gerannt, bis er bei jedem maßgeblichen Entscheidungsträger Hausverbot erhalten hatte. Aber trotz aller Steine, die ihm in den Weg gelegt wurden, gab Edwin Rast nicht auf und bohrte weiter im subversiven Angleruntergrund. Nur in letzter Zeit war es etwas stiller um ihn geworden.
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