Das Alabastergrab (Krimi-Edition)
Fisherman’s End
Edwin Rast war zufrieden – nein, er war mehr als das: Er war erfüllt von einem einzigartigen, finalen Gefühl des sicheren Triumphs. Die schier endlose Zeit des zähen Kampfes sollte nun bald ein Ende finden. Und zwar das gerechte Ende einer gerechten Sache. Seiner Sache. Das Ziel war fast erreicht. Die letzten Stunden vor dem Showdown wollte er mit seiner Lieblingsbeschäftigung verbringen, dem Angeln. Denn dabei, bei der Ausübung seines alles umfassenden Lebensinhaltes, konnte er sich am besten der Wollust des sicheren Siegens hingeben. Sein Blick fiel auf den ruhigen Strom des Mains und die federnde Angelrutenspitze. Das war die Grundlage allen Denkens und Handelns in seinem Leben. An seinem Angelplatz hatte er sämtliche wichtigen Entscheidungen getroffen, er war die Brutstätte seines Masterplans fürs Leben, der nun kurz vor seiner Vollendung stand. Edwin Rast erschauerte. Wenn er angelte, vergaß er die Welt um sich herum. Dann gab es nur noch ihn und den Fluss und den Fisch.
Genauso war es schon in seiner Kindheit gewesen. Bereits als achtjähriger Rotzlöffel hatte er sich aus Weidenruten und zähem Garn der elterlichen Metzgerei Angelruten gebastelt und sich dann heimlich fortgeschlichen, um am Main zu fischen. Nicht selten nachts – und im Gegensatz zu später auch nicht selten erfolglos. Aber das war ihm egal gewesen. Als ungeliebtes Kind musste man sich seine Zuneigung eben dort suchen, wo man sie bekam, und für den kleinen Edwin waren es die Fische gewesen, bei denen er sich geborgen gefühlt hatte. Bald schienen sie seine Gefühle zu erwidern, denn Rotauge, Barbe und Co. begannen, sich sehr gern und bereitwillig seinen Ködern zuzuwenden. Woran das lag, konnte niemand so genau sagen, er am allerwenigsten. Später sollte es kein Wettfischen geben, wo er nicht auf den vorderen Plätzen landete, keinen rekordgewichtigen Fisch in fränkischen Anglerhitlisten, über dem nicht sein strahlendes Konterfei prangte.
Obwohl sein Ableben noch in ferner Zukunft zu liegen schien, war Edwin Rast bereits ein Mythos. Mit seinen fünfundvierzig Jahren eilte ihm bereits der Ruf der Übersinnlichkeit voraus. Es hieß, er könne denken wie ein Fisch. Neben ihm zu angeln, hatte keinen Sinn, so die allgemeine Überzeugung. Wer nahe Edwin Rast geruhte, seinen Wurm zu baden, wurde nur milde belächelt, da der gemeine Fisch, gleich welcher Art oder Herkunft, im übertragenen Sinn bereits an der Edwin’schen Angel Schlange stand, um von ihm – und nur von ihm – erbeutet zu werden. Wenn am Baggerloch nichts mehr ging, hatte Edwin natürlich noch einen Biss. Selbst in der dreckigsten Brühe, bei Hochwasser und zwanzig Grad minus würde er noch einen Dreißigpfünder aus den Fluten holen. Dessen war sich jeder sicher. Und Edwin Rast am allermeisten. Jede verdammte Fischgattung, die es am Oberen Main gab, hatte er schon mit Weltrekordgewicht auf seiner Trophäenliste stehen. Sogar einen Wels. Nur einer fehlte ihm noch: der Zander.
Ausgerechnet sein Lieblingsfisch. Ausgerechnet beim Zander war er nur auf Platz zwei! Eine Hobbyanglerin aus Nedensdorf, einem lächerlichen Kaff ein paar Kilometer flussaufwärts, hatte einen Neunzig-Zentimeter-Zander mit sechs Komma acht Kilo Lebendgewicht im letzten Jahr beim Dorffest aus dem Wasser gezogen. Unglaublich. Am liebsten hätte Edwin dem Zander einen nächtlichen, unangemeldeten Besuch abgestattet und ihm ob seiner erwiesenen Blödheit einen sauberen Anpfiff verpasst, um ihn anschließend wieder zurück ins nasse Element zu verfrachten, denn der unverdiente neue Rekordhalter war erstens eine Frau und zweitens eine Anfängerin. Zwei unerträgliche Komponenten für eine Bestleistung in der Angelwelt. Das Weibsbild hatte den kapitalen Fang ja noch nicht einmal selbst hochheben, geschweige denn wiegen können, schimpfte Edwin stets den versammelten Kollegen vor. Wahrscheinlich kannte sie nicht mal die Fischart, die da an ihrem Haken gehangen hatte. Was für eine Schande. Aber auch das würde bald nur noch Fischereigeschichte sein. Denn ganz in seiner Nähe schwamm bereits der Königsfisch herum, das Meisterstück. Der Ottfried Fischer unter den Schuppenträgern. Zwei Mal schon hatte er ihn springen sehen. Ein Zander wie aus dem Bilderbuch, wie für einen Ewigkeitsrekord zusammengebastelt. Allerdings schien er ziemlich alt zu sein und verhielt sich dementsprechend gerissen und extrem vorsichtig. Als Mensch hätte dem Vieh wahrscheinlich noch eine große politische
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