Das Auge der Fatima
zu rasen. An die Folgen ihrer Hilflosigkeit konnte sie sich noch schmerzhaft deutlich erinnern. Dschinkim war gestorben.
»Bitte, Mama, es ist wichtig!« Noch versuchte sie sich unter Kontrolle zu halten, doch sie merkte, dass sie dazu nicht mehr lange die Kraft hatte. Bald würde sie schreien. »Versuch wenigstens dich zu erinnern! Wir fangen ganz von vorne an. Was habt ihr heute zu Mittag gegessen?«
Beatrices Mutter lächelte ein wenig.
»Es gab Hühnersuppe mit Reis. Die mag sie doch so gern. Aber sie hat heute wenig gegessen. Sie wollte möglichst schnell nach dem Mittagessen zu euch nach Hause zum Spielen.«
Aha, dachte Beatrice, jetzt kommen wir der Sache schon näher. Im Kinderzimmer gibt es bestimmt tausend Dinge, die ein Kind in den Mund stecken kann und die nicht ganz ungefährlich sind, angefangen mit dieser grässlich bunten Knete, die überall so ekelhafte Krümel und Flecken hinterlässt. Sobald ich wieder zu Hause bin, fliegt das Zeug in den Mülleimer.
»Womit wollte Michelle denn spielen?«, hakte Beatrice nach.
Doch ihre Mutter schüttelte nur den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Hat sie zu dir etwas gesagt, Fritz?«
Beatrices Vater sah aus, als würde er langsam aus einem qualvollen Traum erwachen.
»Ja. Aber sie sagte nicht, dass sie etwas spielen möchte. Sie hat gesagt, sie will nach Hause, um ihren Vater zu besuchen.«
»Was?!« Beatrice verschlug es fast die Sprache. »Wie kommt sie denn da drauf?«
»Unsinn, Fritz«, meldete sich wieder Beatrices Mutter zu Wort, »du musst dich verhört haben. Michelle weiß doch gar nicht, wer ...«
Sie brach ab und warf Beatrice einen hastigen Blick zu. Über diesen Punkt wurde in der Familie nie gesprochen. Beatrice ahnte, dass ihre Eltern Michelle für das Resultat eines einmaligen »Fehltritts« hielten und möglicherweise sogar glaubten, dass sie selbst den Namen des Mannes nicht kannte. Sollten sie ruhig weiter daran glauben. Die Wahrheit hätten sie ohnehin nicht akzeptiert. Wenn Beatrice erzählt hätte, dass Michelles Vater ein berühmter arabischer Arzt aus dem Mittelalter und bereits seit fast tausend Jahren tot war, ihre Eltern hätten sofort die Einweisung in eine psychiatrische Klinik veranlasst und ihr per Gerichtsbeschluss das Sorgerecht entzogen. Und sie hätte es ihnen noch nicht einmal verdenken können. Sogar ihr selbst kam die Wahrheit manchmal ziemlich schizophren vor.
»Ist schon gut«, winkte Beatrice ab. »Darüber können wir zu einem anderen Zeitpunkt reden. Erzähl lieber weiter.«
Sichtlich erleichtert atmete ihre Mutter auf.
»Michelle ist gleich ins Schlafzimmer gegangen. Ich glaube, sie wollte in deinem Kleiderschrank herumwühlen und Prinzessin spielen.«
»Nein«, widersprach Beatrices Vater ungewohnt heftig.
»Michelle hat eindeutig gesagt, dass sie zu ihrem Vater will. Und, das hat sie nämlich auch noch gesagt, sie wisse sogar, wo er ist und wie sie zu ihm kommt.«
»Das soll sie gesagt haben? Und warum habe ich sie dann im Schlafzimmer gefunden, neben dem offenen Schmuckkasten?«, rief Beatrices Mutter triumphierend aus. »Ich bin sicher, sie wollte nichts weiter als Prinzessin spielen.«
Offener Schmuckkasten - Schlafzimmer - Vater. Beatrice spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Ihre Gedanken überschlugen sich. Natürlich, das war eine Möglichkeit. Vielleicht eine abwegige, zugegeben, aber immerhin eine Möglichkeit. Sie bewahrte die Steine der Fatima in einem Holzkasten im Schlafzimmerschrank auf. Aber das konnte doch nicht sein, das war doch undenkbar ...
»Mama«, begann Beatrice und lehnte sich gegen den Kaffeeautomaten. Sie brauchte jetzt etwas kaltes, hartes, das sie daran erinnerte, dass sie sich nicht in einem Traum befand. »Wie sah dieser Schmuckkasten denn aus?«
»Es war so ein kleiner, unscheinbarer. Eigentlich kaum mehr als eine Zigarrenschachtel. Ich habe ihn noch nie bei dir gesehen. Er war so gut wi e leer. Nur ein Stück blaues Glas lag darin.«
Glas? Bei dem taubeneigroßen »Glas« handelte es sich in Wahrheit um einen makellos reinen Saphir. Allein sein materieller Wert hätte ausgereicht, um ein Jahr lang gut leben zu können. Sein ideeller Wert hingegen war unermesslich. Für diesen Stein waren bereits Menschen gestorben. Beatrice hätte sicher gelacht, wenn sie nicht gleichzeitig so erschrocken über diese Nachricht gewesen wäre.
»Nur einer?«, fragte sie. »Du hast richtig hingeschaut, es war wirklich nur ein blauer Stein?«
»Ja. Aber du meinst doch nicht etwa
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