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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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annähern, ohne
sich in metafiktive Paradigmen zu verheddern«, sagt jemand.
    Und: »Plastic Bertrand kann meiner Meinung nach am besten als
postironischer nihilistischer Referentialist verstanden werden.«
    Und: »Aber, vergiss nicht, New Wave hat seine Bedeutung aus
der eigenen Bedeutungslosigkeit bezogen. Mann, die Tautologie war absolut beabsichtigt.«
    Und dann: »Wasn’t
that a mighty time, wasn’t that a mighty time …«
    Ich blicke auf. Der Junge, der die Strophe aus Tupelo singt,
ein berüchtigter Aufreißer aus der Slater, einer weiteren Schule in den
Heights, sitzt plötzlich am anderen Ende des Sofas. Grinsend rutscht er immer näher,
bis sich unsere Knie berühren.
    Â»Du bist gut«, sagt er.
    Â»Danke.«
    Â»Bist du in einer Band?«
    Ich spiele mit gesenktem Kopf weiter, also schlägt er eine
forschere Gangart an.
    Â»Was ist das?«, fragt er und beugt sich vor, um an dem roten
Band um meinen Hals zu ziehen, an dem ein silberner Schlüssel hängt. »Der
Schlüssel zu deinem Herzen?«
    Ich könnte ihn umbringen, weil er ihn berührt hat. Ich würde
gern etwas sagen, das ihn zu Staub zermalmt, aber ich kriege nichts raus. Die
Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich kann nicht sprechen, also hebe ich die
Hand – die mit den vielen Totenkopfringen – und balle sie zur Faust.
    Er lässt den Schlüssel los. »Hey, tut mir leid.«
    Â»Lass das«, sage ich und schiebe den Schlüssel unter mein
Hemd. »Mach das nie wieder.«
    Â»Okay, okay. Bleib locker, du Irre«, sagt er und geht auf
Abstand.
    Ich lege die Gitarre in den Koffer und mache mich auf den Weg
zu einem Ausgang. Vordertür. Hintertür. Fenster. Egal. Als ich das Wohnzimmer
halb durchquert habe, spüre ich eine Hand auf meinem Arm.
    Â»Jetzt komm. Es ist Viertel nach acht.«
    Es ist Vijay Gupta. Präsident der Ehrengesellschaft, des
Debattierclubs, des Schachclubs und der Nachbildung der Vereinten Nationen.
Diakon seiner Kirche. Freiwilliger in einer Suppenküche, Mitglied in einem
Literaturzirkel und beim Tierschutzverein. Fellow des Davidson-Instituts,
Stipendiat der nationalen Hochbegabtenstiftung, Gewinner des Poesie-Preises der
Universität Princeton, aber leider kein Krebsüberlebender.
    Orla McBride ist eine Krebsüberlebende, sie hat in ihren
College-Apps darüber geschrieben und bekam eine vorzeitige Zulassung für
Harvard. Chemotherapie, Haarausfall und heftiges Erbrechen schlagen außergewöhnliche
Zusatzleistungen um Längen. Vijay kam bloß auf die Warteliste, also ist er
immer noch in unserer Klasse.
    Â»Ich gehe nicht«, sage ich zu ihm.
    Â»Warum nicht?«
    Ich schüttle den Kopf.
    Â»Was ist denn?«
    Vijay ist mein bester Freund. Mein einziger Freund im Moment.
Ich habe keine Ahnung, warum er noch zu mir hält. Wahrscheinlich bin ich eine
Art Resozialisierungsprojekt für ihn, wie die Loser-Typen, um die er sich im Obdachlosenasyl
kümmert.
    Â»Andi, jetzt komm«, sagt er. »Du musst den Entwurf für deine
Abschlussarbeit abgeben. Beezie schmeißt dich raus, wenn du’s nicht tust.
Letztes Jahr hat sie zwei Schüler aus der Abschlussklasse rausgeschmissen, weil
sie keinen Entwurf abgegeben haben.«
    Â»Ich weiß. Aber ich mach’s nicht.«
    Vijay sieht mich besorgt an. »Hast du heute schon deine
Medikamente genommen?«, fragt er.
    Â»Ja.«
    Er seufzt. »Wir sehen uns später.«
    Â»Ja, V. Bis später.«
    Ich verlasse das Château van Epp und gehe die Promenade
hinunter. Es schneit. Hoch über dem Brooklyn-Queens-Expressway setze ich mich
hin, starre eine Weile auf Manhattan hinüber und spiele dann. Stundenlang. Ich
spiele, bis meine Finger wund sind. Bis mir ein Nagel einreißt und das Blut auf
die Saiten tropft. Bis meine Hände so wehtun, dass ich vergesse, wie sehr mein
Herz schmerzt.
    Â Â 2  
    Â»Als Kind hab ich alles geglaubt, was man mir erzählt hat«,
sagt Jimmy Shoes, während wir einen kleinen Jungen vorbeitapsen sehen, der eine
Grinch-Figur an sich drückt. »Jeden Mist. Ich hab an den Nikolaus geglaubt, den
Osterhasen, den Schwarzen Mann. Und an Eisenhower.« Er nimmt einen Schluck aus
der Bierflasche, die in einer Papiertüte steckt. »Und du?«
    Â»Ich bin immer noch ein Kind, Jimmy.«
    Jimmy ist ein alter Italiener. Manchmal sitzt er mit mir auf
der Promenade. Er ist nicht ganz dicht im Kopf.

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