Das Blut der Lilie
Missverständnis war, dass es ihm gut geht. Aber statt seiner Stimme höre
ich Reifen quietschen. Ich drehe mich um und sehe einen Wagen auf mich zurasen.
Alles in mir befiehlt mir zu rennen, aber ich bewege mich
nicht. Weil ich es genauso will. Weil ich will, dass der Schmerz ein Ende hat.
Der Wagen wird heftig herumgerissen und kommt quietschend zum Stehen. Ich
rieche verbrannten Gummi. Leute kreischen.
Im nächsten Moment ist die Fahrerin bei mir. Sie weint und
zittert. Sie packt mich an der Jacke und schreit mich an. »Du verrücktes Gör!«,
schreit sie. »Ich hätte dich totfahren können!«
»Tut mir leid«, sage ich.
»Tut dir leid?«, schreit sie. »Du siehst nicht aus, als obâs
dir leid täte. Du â¦Â«
»Tut mir leid, dass Sie mich verfehlt haben«, sage ich.
Daraufhin lässt sie mich los. Tritt einen Schritt zurück.
Hinter uns stauen sich Autos. Jemand fängt an zu hupen. Ich
sehe nach Truman, aber er ist fort. Natürlich. Er war nicht real. Es sind die
Pillen, die mir solche Streiche spielen. Dr. Becker sagte, möglichwerweise
würde ich Dinge sehen, wenn ich zu viele schluckte.
Ich versuche weiterzugehen, von der StraÃe wegzukommen, aber
meine Beine zittern so heftig, dass ich mich kaum bewegen kann. Auf dem
Gehsteig steht ein Mann, der mich anglotzt. Ich zeige ihm den Mittelfinger,
nehme meine Tasche und wanke nach Hause.
  5 Â
»Mom?«, rufe ich, als ich die Haustür öffne. Keine Antwort.
Das ist nicht gut.
Ich kicke den Berg Briefe auf dem FuÃboden beiseite.
Rechnungen. Noch mehr Rechnungen. Briefe von Maklern, die unser Haus verkaufen
wollen. Postkarten von Kunstgalerien. Eine Ausgabe von Immolation, dem Literaturblatt
der Schüler von St. Anselm. Briefe an meinen Vater von Leuten, die immer noch
nicht wissen, dass er vor über einem Jahr nach Boston gezogen ist, um in
Harvard den Lehrstuhl für Genetik zu übernehmen. Mein Vater ist Experte für
Genetik. Er ist weltberühmt. Meine Mutter hat den Verstand verloren.
»Mom? Mom!«, rufe ich.
Noch immer keine Antwort. In meinem Kopf läuten Alarmglocken.
Ich renne ins Wohnzimmer. Da ist sie. Sie steht nicht barfuà im Hinterhof und
drückt Hände voller Schnee an sich. Sie zerschlägt nicht jeden Teller im Haus.
Sie liegt nicht starr zusammengerollt in Trumans Bett. Sie sitzt einfach an
ihrer Staffelei und malt. Erleichtert küsse ich sie aufs Haar.
»Alles in Ordnung mit dir?«, frage ich.
Sie nickt und lächelt, drückt meine Hand an ihre Wange und
wendet den Blick kein einziges Mal von der Leinwand.
Ich möchte, dass sie mich fragt, ob es mir gut geht. Ich
möchte ihr sagen, was ich fast getan hätte. Vor ein paar Minuten auf der Henry
Street. Ich möchte, dass sie mir verbietet, so etwas je wieder zu tun. Dass sie
mich anschreit. Die Arme um mich legt und mich festhält. Aber das tut sie
nicht.
Sie arbeitet an einem weiteren Bild von Truman. Davon gibt es
schon jede Menge. Sie hängen an Wänden, lehnen an Stühlen, stehen auf dem
Klavier, stapeln sich im Gang. Er ist überall, wohin ich auch sehe. Auf dem
Boden liegt Werkzeug. Eine Säge. Schrauben und Nägel. Leinwandfetzen. Sie zieht
ihre Leinwände gern selbst auf. Ãberall liegen zusammengeknüllte Lappen und ausgedrückte
silberne Tuben herum, und auf dem Boden sind Farbspritzer. Ich kann die Ãlfarbe
riechen. Es ist mein absoluter Lieblingsgeruch. Eine Sekunde lang bleibe ich
stehen, atme ihn ein, und es ist wie früher. Bevor Truman starb.
Es ist ein kalter Herbstabend, es regnet, und wir sitzen im
Wohnzimmer, wir drei, Mom, Truman und ich. Im Kamin brennt ein Feuer und Mom malt.
Sie malt ihre Stillleben. Sie sind sehr gut. Der Kritiker der Times meinte,
dasjenige, das im Metropolitan hängt, sei »die Welt im Kleinen«. Einmal hat sie
ein winziges Nest mit einem blauen Ei darin gemalt, das unter dem Gestänge
einer alten schwarzen Nähmaschine liegt. Ein anderes Mal war es ein umgekippter
roter Nähkorb, aus dem der Inhalt herausgerollt ist, daneben eine angeschlagene
Kaffeetasse. Und mein Lieblingsbild â eine rote Amaryllis neben einer Musikbox.
Truman ist wie sie, er zeichnet, während sie malt. Ich spiele Gitarre. Der
Regen wird heftiger, es wird dunkel. Wir achten nicht darauf. Wir sind zusammen
in unserem Haus, beim Kaminfeuer, wir sind die Welt im Kleinen.
Ein paar Mal war mein Vater
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