Das Blut der Rhu'u (German Edition)
worden war. Am Himmel stand ein silberner Vollmond, der heller strahlte, als Kara es je gesehen hatte. Auch die Sterne schienen hier heller zu sein als zu Hause. Bis auf die Geräusche eines leichten Windes, der um die Felsen strich, war alles still. Und so herrlich friedlich. Kara lauschte dem Wind und verlor sich nach einer Weile in seinem betörenden Flüstern und Raunen. Sie fühlte sich losgelöst von allem, was sie bedrückte, und empfand ein Gefühl zufriedener Heiterkeit, als würden hier keine Sorgen existieren. Sie gab sich dem Gefühl hin und wünschte sich, es nachher mitnehmen zu können, wenn sie wieder in die Unterkunft zurückkehrte. Und nicht nur dorthin, sondern auch mit zurück nach Hause.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon den Mond betrachtet hatte, als sie merkte, dass sie nicht mehr allein war. Ein Stück entfernt stand Meister San und beobachtete sie. Sie verbeugte sich respektvoll.
»Ich hoffe, ich bin hier nicht an einem Ort, an dem ich gar nicht sein darf. Ich wollte niemanden stören. Ich konnte nur nicht schlafen. Es ist so friedlich hier.«
»Ja«, stimmte Meister San zu. »Ich komme auch oft hierher, um zu meditieren. Und nein, du befindest dich nicht an einem verbotenen Ort.« Er stellte sich neben sie und blickte eine Weile ebenfalls auf den Mond, ehe er sich ihr zuwandte und sie intensiv musterte. »Sage mir, was du mit eurem Kristall tun wirst, wenn ihr ihn wieder zusammengesetzt habt«, bat er übergangslos.
»Mich und meine Familie schützen.« Kara staunte, wie spontan und vor allem vehement das aus ihr herausgekommen war. »Damit nie wieder Mütter ermordet werden und ihre Kinder als Halbwaisen zurücklassen.« Ohne es zu wollen, brach sie in Tränen aus, als würde sie erst in diesem Moment die volle Tragweite ihres Verlustes spüren.
Ehe sie sich versah, erzählte sie Meister San alles. Von dem Moment an, da der Sukkubus in ihr erwacht war, bis zu ihrer Ankunft in seinem Kloster. Sie berichtete von ihrem immer noch vorhandenen Abscheu vor ihrer dämonischen Natur, die sie zu einem Verhalten zwang, das sie niemals freiwillig ausleben wollte, von ihrer Angst und ihren Zweifeln und ihrer Hoffnung, vielleicht mithilfe des Arrod’Sha einen Weg zu finden, ihren Frieden mit sich selbst zu machen. Sie ließ nichts aus.
Als sie geendet hatte – nach einer Ewigkeit, wie es ihr erschien –, lächelte Meister San. Mit einer zärtlichen Geste berührte er ihre Stirn mit dem Zeigefinger. Im selben Moment überkam Kara ein Gefühl unbeschreiblicher Ruhe, und ein Friede zog in ihren Geist ein, wie sie ihn nicht einmal vor dem Erwachen als Sukkubus verspürt hatte. Sie fühlte sich vollkommen eins mit sich selbst, der Nacht und allem anderen.
Meister San wünschte ihr eine gute Nacht und ließ sie mit ihrem Wunder allein.
Als Carana lange Zeit danach in die Unterkunft zurückkehrte, fühlte sie sich heil und ganz. Sie kroch so leise wie möglich in ihren Schlafsack, hatte aber den Reißverschluss noch nicht vollständig zugezogen, als sie merkte, dass Camiyu wach geworden war. Er lächelte ihr zu, rückte näher und legte die Arme um sie, um sie zusätzlich zu wärmen. Es fühlte sich gut an und trug zu Caranas Wohlbefinden bei. Eingehüllt in seine Wärme und ihren inneren Frieden schlief sie ein.
*
Camulal hatte Caranas Fortgehen bemerkt und war ihr gefolgt. Er traute den Mönchen nicht und rechnete damit, dass sie die Gunst der Stunde, eine Rhu’u allein in der Nacht herumwandern zu finden, ausnutzen könnten, um ihr etwas anzutun. Schließlich waren sie bestimmt nicht davon begeistert, dass sie gekommen waren, um die Kristalle zu holen. Das Misstrauen lag ihm im Blut; vielmehr hatten seine Mutter und sein Bruder es ihn auf drastische Weise gelehrt, indem sie ihm bei jeder Anwandlung von Vertrauen bewiesen, dass er gut beraten wäre, nicht einmal seinen Verwandten zu trauen. Er hatte das nie infrage gestellt.
Bis er Carana kennengelernt hatte. Sie war anders, nicht nur, weil sie erst kürzlich erwacht war. Was er in ihr fand, fehlte seiner Mutter und Casdiru völlig. Aber es war angenehm und erweckte in ihm den Wunsch, Carana vor Schaden zu bewahren, neben anderen Dingen, die sie ebenfalls in ihm auslöste. Als er sah, dass niemand sie bedrohte und sie auch nicht verfolgte, überließ er sie ihrer Betrachtung des Mondes und streifte durch die schmalen Gassen zwischen den Gebäuden.
Als er um eine weitere Ecke bog, sah er ein rötliches Leuchten. Seine Sinne sagten
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