Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung
dessen Dorfpfarrei zu besuchen, hatte man den armen Teufel aufgeknöpft. Jetzt, einen halben Tag später, hing er noch immer. Während der Pöbel sich um die besten Plätze bei der Hinrichtung geprügelt hatte, war er angewidert weitergegangen. Nun, als einer der Vögel sich auf die Schulter des Delinquenten setzte, konnte er nicht anders. Er lief auf den Richtplatz zu und blieb wenige Fuß vor dem Galgen stehen. Er wusste, dass er sich eilen musste, aber das makabere Schauspiel riss ihn in seinen Bann. Der nächste Aasfresser landete auf dem kahlen Kopf des Gehenkten. Zwei weitere Vögel saßen auf einem der beiden Räder, die neben dem Galgengerüst standen, und beobachteten vorsichtig.
Als der Bibliothecarius vor dem Toten stand, zogen sich seine Eingeweide zusammen. Der beißende Geruch war schier unerträglich. Würmer krochen aus vielen Wunden des leblosen Körpers. Der Mann musste bereits im Kerker halb verfault gewesen sein. Auch wenn er ein Mörder gewesen war, einen derartigen Tod wünschte er keinem Menschen.
Die Krähe auf dem Kopf des Gehängten setzte an und pickte ihrem Opfer in die Augenhöhle. Unwillkürlich hielt sich der Beobachter sein eigenes Auge, so als würde er den Schmerz selbst spüren.
»So unternehmen Sie doch etwas, meine Herren!«
Die beiden Männer von der Bürgerwehr, unerfahrene Henkersknechte, die das Schafott bewachten, standen unbeteiligt am Rande des Geschehens.
Als der Bibliothecarius nicht aufhörte, mit den Armen zu fuchteln, ließen sie sich dazu herab, zu dem Toten aufzusehen.
»Ganz schön eklisch, nich wahr?«
Der andere nickte stumm.
»Mir solle ihn noch ein wenisch baumeln lasse, hat man uns gesagt, zur Abschreckung. Isch glaub, des klappt gut, nich wahr?«
Der Bibliothecarius antwortete nicht auf die Frage. Wie sollte man mit dem einfachen Volk vernünftig reden? Immer mehr Krähen landeten auf dem Galgen, stocherten und hackten. Die Henkersknechte lachten amüsiert. Der eine kratzte sich zwischen seinen Beinen, der andere spuckte den toten Körper an und traf das linke Schienbein.
»Allez, hopp! Dann hol ihn mol runna«, sagte der eine zu dem anderen, »jetzt wird's sowieso dunkel. Ich hab kei Luscht, die ganze Nacht hier rumzustehen, und wir müsse den eh noch ins Lazarett bringe. Damit die Herre Studente was zum Forsche habe, nich wahr?«
Sein Kollege grunzte mürrisch, setzte sich aber in Bewegung. Er kletterte einen der drei Stämme hoch, auf denen der Galgen aufgebracht war, und schlug mit einem Holzprügel nach den Vögeln. Dann öffnete er den Knoten des Seils mit einem Messer.
Das zerfurchte Gesicht des Kriminellen schlug mit einem dumpfen Knall auf dem trockenen Boden auf. Der Bibliothecarius sprang einen Schritt rückwärts. Ihm schoss die Magensäure in den Rachen. Er hielt sich den Bauch und versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken. Die Leiche starrte ihn an. Allerdings hatte sie dazu nur noch ein Auge.
Der zweite Henkersknecht rollte eine Schubkarre herbei. Das Geräusch von brechenden Knochen ertönte, als sie den steifen Körper auf den Karren knallen ließen. In der Sommerhitze war die Totenstarre schon nach wenigen Stunden eingetreten.
Der Bibliothecarius wandte sich ab und eilte davon. Er drehte sich nicht mehr um, bis er das Neckartor erreicht hatte und die Mauern der Stadt passierte. Er bog nach rechts ab, direkt in das Herz der Unterstadt, und beschleunigte seinen Schritt, um die Verspätung aufzuholen. Nach dem Erlebten war ihm der Mief der städtischen Straßen eine Erleichterung wie nie zuvor. Selbst an diesem schwülen Sommertag.
Es war allseits bekannt, dass die Luft wegen der Höhe der Festungswerke innerhalb der Stadt unzureichend zirkulieren konnte. Außerdem waren die Festungsgräben zu hoch angelegt worden. Wenn der Wasserstand von Rhein und Neckar abfiel und das Wasser aus den Gräben abzog, kam der Morast zum Vorschein, dessen Gestank an heißen Tagen unerträglich war und die gesamten Stadt verpestete.
Als er an einem Schweinestall vorbeikam, wedelte er sich den Gestank in die Nase und saugte ihn auf, um der Erinnerung an den Geruch des Hingerichteten zu entfliehen.
Er bog in die Fischergasse und hielt Ausschau nach dem Schanklokal, in dem er verabredet war. In letzter Zeit hatten so viele Wirtshäuser in diesem Viertel eröffnet; man konnte meinen, es gäbe mehr Schänken und Brauhäuser als Bürger in dieser Stadt.
Er musste sich beeilen. Bei der heutigen Zusammenkunft gab es vieles zu besprechen. Das Gerücht,
Weitere Kostenlose Bücher