Das Buch der zwei Krähen. Historische Erzählung
das in den letzten Tagen zu ihm gedrungen war, klang ungeheuerlich. Seine Brüder würden doch nicht tatsächlich? Nein. Das wäre schockierend. Wie konnte man die Ziele der Bruderschaft derart missverstehen?
Endlich erkannte er das Lokal. »Zum Krähenfuß«. Wie passend. Die Lage war nicht die beste, aber wo sonst konnte man ein geheimes Treffen abhalten, wenn nicht am Stadtrand.
Er sah sich verstohlen um. Die Straße war menschenleer. Er öffnete den Beutel, den er mit sich trug, und zog den schwarzen Mantel hervor. Diesen warf er sich um und zog die Kapuze bis in die Stirn. Dann band er sich die schwarze Krähenmaske vors Gesicht. Als Letztes hängte er sich die schwere Kette um, mit dem Anhänger, der das strahlende Auge zeigte; das Zeichen des Großmeisters. Er blickte um sich. Dann betrat er die Gaststube und schritt durch den schummrigen Raum, eingehüllt in Tabakschwaden.
Er ging an den grölenden Säufern vorbei, direkt auf eine schmale Tür am hintersten Ende des Zimmers zu. Die Beschimpfungen, die ihm ein Gast hinterherbrüllte, nahm er nicht wahr.
Was ist das für eine wunderbare Welt, dachte er, in der ein gebildeter Protestant, der wegen seiner Konfession niemals die Gelegenheit haben würde, die Leitung einer Bibliothek in diesem katholischen Staate zu übernehmen, dennoch der Großmeister seiner eigenen geheimen Gesellschaft zu werden vermochte!
Er hob die Brust und öffnete die Tür. In dem Hinterzimmer saßen sieben Gestalten um einen runden Tisch, allesamt in schwarze Roben und schwarze Masken gekleidet. Nur eine Kerze erleuchtete das Kabuff.
»Endlich! Der Großmeister!«
Der Bibliothecarius stellte sich an den letzten freien Platz und sah auf seine Gefährten herab.
»Ich zähle sieben Personen im Raum, mit mir sind es acht. Wer kann mir diesen Umstand erklären?«
»Wir haben ein neues Mitglied, mein Meister.«
»Wer ist es?«
»C'est moi«, sagte der Mann, der dem Großmeister genau gegenübersaß, in akzentfreiem Französisch.
»Aha. Sie sprechen nicht unsere deutsche Sprache? Unsere Gesellschaft will deren Förderung vorantreiben!«
»Non.«
»Aber verstehen können Sie uns?«
»Oui.«
»Nun gut. Dass Sie kein Deutscher sind, soll Sie nicht davon abhalten, unserer Vereinigung beizutreten. Es ist eine unserer Direktiven, für die Gleichheit aller Menschen einzustehen. Sind Sie ansonsten mit unseren Zielen vertraut?«
Der Mann nickte.
»Wissen Sie außerdem um die Geheimhaltung, die wir uns gegenseitig auferlegt haben? Niemand von uns kennt die Namen oder die Gesichter seiner Brüder.«
Diese Regel hatte sich der Bibliothecarius ausgedacht, damit niemand herausfinden konnte, dass er ein einfacher Hofangestellter war. Selbst bei den Freimaurern wäre er unerwünscht gewesen.
Es hatte alles damit begonnen, dass er sich nach dem letzten Besuch Voltaires bei Carl Theodor in Schwetzingen im Jahre 1758 verstärkt mit dessen Schriften auseinandergesetzt hatte. Das Feuer der Aufklärung war in langen Spaziergängen am Neckarufer in seinem Herzen emporgelodert. Was wäre, wenn diese Gedanken auch in Deutschland verbreitet würden? In deutscher Sprache? Oft schwelgte er in Hoffnungen auf eine neue Zeit und auf einen neuen, erleuchteten Menschen.
Im Sommer des Jahres 1759 zeigte ihm Abbé Nicolas Maillot de la Treille, der leitende Bibliothekar, eine Sammlung von vergilbten Schriftrollen, die er in Holland bei einem Trödler gekauft hatte.
»Ich weiß um Eure heimliche Begeisterung für die germanische Kultur«, hatte er zu ihm gesagt. »Darum könnt Ihr diese Schriftstücke einsortieren, wie es Euch am sinnvollsten erscheint.«
»Was ist das? Snorrna-Edda?«
»Genau weiß ich es nicht, aber man hat mir erklärt, dass es sich um eine Sammlung alter germanischer Lieder handelt, die vor allem in Deutschland seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten sind. Leider habe ich erst zu spät bemerkt, dass die Verse in einer Sprache abgefasst sind, für die ich beim besten Willen keinen Übersetzer finden konnte. Ein Gelehrter vermutete aber, dass es sich um eine alte Form des Isländischen handelt.«
»Isländisch?«
»Genau. Ich fürchte, sie sind wertlos für unsere Sammlung.«
In der folgenden Zeit beschäftigte er sich intensiv mit der isländischen Sprache, was sich als außerordentlich schwer herausstellte. Dennoch, nach ein paar Monaten gelang es ihm, einige der Verse mithilfe anderer skandinavischer Sprachen im Ansatz zu verstehen. Es schien sich in der Tat um eine Sammlung von
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