Das Buch mit dem Karfunkelstein
ihm zum Kloster gegangen und sein Vater hatte ihn mit einem feierlichen Gelübde den
Benediktinern übergeben.
Paul hatte bald gemerkt, dass Bruder Lambert die Oblaten genau beobachtete. Ständig verfolgte er sie mit seinen scharfen Raubvogelaugen
und wartete darauf, dass sie einen Fehler machten. Die Kleinen fürchteten sich vor ihm, aber sie waren auch gerade erst sieben
oder acht Jahre alt. Und die Größeren wie Paul lernten schnell, Lambert aus dem Weg zu gehen. Manchmal sehnte sich Paul danach,
einfach die Pforte zur Stadt zu öffnen und zu seiner Cousine zu gehen. Agnes würde ihn bestimmt verstehen. Und ihr Freund
Jakob auch. Er würde endlich wieder so viel reden und lachen dürfen, wie er wollte. Aber niemand durfte dasKloster ohne Erlaubnis verlassen, nicht einmal die Mönche.
An die vielen Gebote im Kloster konnte er sich am schlechtesten gewöhnen. Niemand sprach hier, außer im Unterricht und an
Orten, wo Sprechen erlaubt war. Niemand lachte übermütig, wie er es daheim mit seinen Freunden getan hatte. Er musste eine
lange Kutte aus kratziger Wolle tragen, die ihm beim Laufen überall im Weg war. Zu Hause hatte er die feine, weiche Kleidung
eines Kaufmannssohns gehabt. Man war ihm gegenüber höflich gewesen, denn sein Vater Caspar Zwolle war ein reicher Tuchhändler
und hatte Einfluss in seiner Stadt.
Alle seine Schätze hatte Paul zu Hause lassen müssen: eine Münze aus dem fernen Land der Kalifen, die sein Vater ihm geschenkt
hatte, ein kleines, fein gearbeitetes Stundenbuch mit Gebeten für jeden Tag und sogar das goldene Medaillon, das er seit seiner
Geburt getragen hatte, mit dem winzigen Bild seines Namenspatrons, des Heiligen Paulus.
Langsam ging Paul hinüber zur anderen Seite des Raumes, wo ein Bett neben dem anderen an der Wand entlang stand. Er hängte
den nassen Umhang an den Haken neben seinem Bett und merkte, dass wieder jemand an seiner Truhe gewesen war. Am Morgen hatte
er sie verschlossen, aber jetzt schaute ein Zipfel seiner dünnen Sommerkutte heraus. Niemand durfte in der Truhe eigenen Besitz
aufbewahren, denn den gab es im Kloster nicht. Es wurde regelmäßig kontrolliert, ob jemand trotzdem etwas versteckte und deshalb
eine Strafe verdiente.
Seufzend zog Paul die Kutte über den Kopf, faltete sie zusammen, wie der Novizenmeister es ihm gezeigt hatte, und legte sie
auf die Truhe. Dann kroch er unter die warme Felldecke auf der Strohmatratze und schlief sofort ein. Er hörte noch nicht einmal,
dass die anderen aus der Kirche zurückkamen.
Am nächsten Morgen strahlte die Sonne aus einem tiefblauen Herbsthimmel, als hätte es nie einen Sturm gegeben. Nach der Morgenandacht
glaubte Paul schon fast, Bruder Lambert hätte seine Drohung vom Abend zuvor vergessen. Erleichtert ging er mit den anderen
Oblaten zum Unterricht ins Novizenhaus hinüber. Aber da holte Lambert ihn am Arm aus der Gruppe. Schweigend zog er ihn mit
sich in die Kirche zurück und weiter durch eine Pforte in den Kreuzgang, der um einen viereckigen, schön bepflanzten Innenhof
führte. Um ihn herum standen die Gebäude, in denen die Mönche abgeschlossen vom Rest des Klosters lebten, aßen und schliefen.
Bruder Lambert öffnete eine Tür und Paul fuhr erschrocken zurück. Es war der Kapitelsaal. Er hieß so, weil sich der Abt und
alle Mönche täglich nach der Morgenandacht hier versammelten, um ein Kapitel aus der Ordensregel des Heiligen Benedikt oder
aus einem geistlichen Buch zu hören. Außerdem diskutierten sie in diesem Raum wichtige Entscheidungen für das Kloster. Aber
hier wurden auch Übeltäter bestraft!
Jetzt war der Kapitelsaal voller Mönche, die ihn schweigend anblickten. Paul war es mulmig zumute.Vielleicht hätte er sich doch schnell eine kluge Ausrede einfallen lassen sollen, als Bruder Lambert ihn erwischt hatte. Aber
der hätte ihm sowieso nicht geglaubt und ihn dann auch noch bei einer Lüge ertappt. Jetzt konnte Paul nur noch abwarten, was
passieren würde. Er hatte keine Ahnung, aber Lamberts zorniges Gesicht verhieß nichts Gutes.
Der Subprior zerrte ihn in den Raum und schloss leise die Tür. Er machte Paul ein Zeichen, stehen zu bleiben, wo er war. Plötzlich
verschwand der zornige Ausdruck wie von Zauberhand von seinem Gesicht. Er drehte sich um und senkte demütig den Kopf. Langsam
ging er an seinen Mitbrüdern vorbei zu seinem Platz auf der langen Holzbank, die sich an den Wänden entlang rund um den Raum
zog.
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