Die Laufmasche
Ich antwortete nicht.
»Was für eine Frage«, murmelte Nina. »Natürlich nicht. Hast du was zu trinken?«
»Mineralwasser«, sagte ich. »Oder Apfelsaft.«
»Ich habe nicht vor, nüchtern zu dem
Klassentreffen zu gehen, du vielleicht?«
»Wie wär's mit Sekt?«
»Schon besser. Ich hatte einen grauenhaften Tag.«
Nina ließ sich in einen meiner Korbsessel fallen, streckte ihre Beine aus und musterte mich kritisch.
»Was ziehst du an?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ist doch auch egal!«
»Egal?«, wiederholte Nina und sah mich vorwurfsvoll an. »Wenn ich das sagen würde, wäre es etwas anderes! Ich bin ja schließlich schon mit einem Mann gesegnet. Aber du als Single kannst es dir wirklich nicht leisten, dich gehen zu lassen.«
»Ich bin kein Single«, sagte ich matt.
»Aber so gut wie«, beharrte Nina. »Till ist kein richtiger Mann, und ihr habt keine richtige Beziehung!«
Ich fragte nicht, was Nina sich unter einer richtigen Beziehung und einem richtigen Mann vorstellte, weil ich ihre Antwort längst kannte. Ein richtiger Mann studierte nicht achtzehn Semester lang, ohne nicht wenigstens in einem Fach das Vordiplom zu schaffen. Für Nina gab es nur eine einzige Sorte richtiger Männer, und das waren die, die eine Frau spätestens drei Wochen nach dem Kennenlernen von der Bürde befreiten, ihr eigenes Geld verdienen zu müssen. Richtige Männer konnten ein Einkommen aufweisen, das für zwei reichte, inklusive repräsentativer Doppelhaushälfte, gehobenem Mittelklassewagen,
parkplatzfreundlichem Zweitwagen und einer Fernreise pro Jahr. Ninas Ansichten waren nicht mal exzentrisch, meine Mutter zum Beispiel dachte ganz genauso. Sie hielt Till genauso wenig für geeignet, ihr Schwiegersohn zu werden, wie er selber.
-Wenn du deine besten Jahre an einen Versager verschwendest, wirst du niemals die Gelegenheit haben, einen richtigen Mann kennen zu lernen, pflegte sie zu sagen.
Nina sagte jetzt etwas ganz Ähnliches. »Mach dich schön! Du weißt niemals, ob dir nicht doch irgendwann ein Traummann über den Weg laufen wird. In den ersten drei Sekunden einer Begegnung macht man sich ein unrevidierbares Bild von seinem Gegenüber, haben die Psychologen
herausgefunden. Mit fettigen Haaren und einem ausgeleierten T-Shirt hast du dann keine Chance!«
»Meine Haare sind nass, nicht fettig«, sagte ich beleidigt. »Und ich hatte nicht vor, ein ausgeleiertes T-Shirt anzuziehen.«
»Gut«, sagte Nina. »Denn denk nur mal an heute Abend: fünfzig Männer am Beginn ihrer Karriere, im besten Alter, um eine Familie zu gründen. Die Gelegenheit bekommst du so schnell nicht wieder.
Zieh dieses scharfe rote Kleid an, das seit Monaten ungetragen in deinem Schrank herumhängt.«
»Woher weißt du das?«
»Dass du es noch nie getragen hast?« Nina grinste tückisch. »Weil ich dich kenne.«
»Ich hatte eben bisher noch nie die richtige Gelegenheit«, sagte ich lahm. Das Kleid hatte meine Wohnung tatsächlich niemals verlassen. Dabei war es mit raffinierten Schlitzen ausgestattet und war sündhaft teuer gewesen. Zusammen mit
Seidenstrümpfen, Pumps und meinem geerbten Rubincollier war ich darin schlicht overdressed zu jedem, aber auch jedem Anlass, der mich seit dem Kauf des Kleides aus der Wohnung getrieben hatte.
»Passende Anlässe muss man sich oftmals selber schaffen«, sagte Nina, als habe sie meine Gedanken gelesen. »Heute Abend ist die Gelegenheit für dich und das Kleid! Trink noch ein Glas Sekt!«
Der Sekt und vor allem die Tatsache, dass Nina selber sich in einen schwarzen Cocktailfummel mit Strassborte warf, dazu Netzstrümpfe und eine dreireihige Perlenkette auspackte, brachten mich tatsächlich dazu, das geschlitzte Kleid anzuziehen.
Ich fand sogar, dass ich darin gegen Nina geradezu underdressed wirkte, zumal sie auch mit dem Make-up nicht sparsam umging und ihre Haare eine halbe Stunde lang mit meinem Lockenstab quälte.
Zum Schluss, nach einer Überdosis »Obsession«
aus dem Zerstäuber, warf sie ihre Mähne in den Nacken und lächelte mich im Spiegel an: »Sehe ich jetzt noch so aus, als würde ich einen Arzt mit Gewichtsproblemen, eine Tochter im
Kindergartenalter und eine Doppelhaushälfte in der Vorstadt haben?«
Ich war ganz fasziniert von meinem eigenen Spiegelbild. Die Investition in das Kleid hatte sich vielleicht doch gelohnt. »Ja«, sagte ich zerstreut.
»Du siehst ganz toll aus.«
Nina stieß mich ärgerlich in die Rippen. »Das war die falsche Antwort. Wenn
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