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Das Dach kommt spaeter

Das Dach kommt spaeter

Titel: Das Dach kommt spaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Murat Topal
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gleichen Steckdosen – wozu also die ganzen neuen Kabel? Meine Mutter wird seit ihrer Hochzeit übrigens »Melek« genannt, was auf Deutsch »Engel« bedeutet. Für uns Kinder war sie aber immer Anne, das türkische Wort für »Mama«.
    Wie viele Menschen, die ihr Leben lang hart gearbeitethaben und das verständlicherweise gewürdigt sehen möchten, kann mein Vater manchmal etwas barsch werden, wenn er findet, dass ihm der nötige Respekt versagt wird. Dabei achten und lieben wir ihn sehr. Obwohl es anstrengend ist, dass er zu – ungelogen – jedem Thema eine Meinung hat. Insofern haben wir ein enges, aber nicht ganz unkompliziertes Verhältnis – wie so oft bei Vätern und Söhnen der Fall, sind wir uns eben einfach zu ähnlich.
    »Murat, Junge«, antwortete er, als ich mir endlich ein Herz fasste und ihm beichtete, dass wir umziehen wollten. »Waren wir sechs Kinder daheim. Und lebten nicht nur mit unsere Baba und Anne, sondern auch mit Baba und Anne von unsere Baba und mit Baba und Anne von unsere Anne. Macht zwölf Leute, und war trotzdem nicht mehr Platz als achtzig Meter im Quadrat. Ist pro Person viel weniger als bei euch.«
    »Ja, Baba. Ich weiß, du bist ein Ass im Rechnen.«
    Das stimmte wirklich. Als wir zum ersten Mal unsere Verwandtschaft in der Türkei besuchen wollten, ich war damals vielleicht sechs Jahre alt, stellte mein Baba über lange Zeit komplizierte mathematische Berechnungen an. Es ging dabei um den Rauminhalt seines gebraucht gekauften Benz-Kombis in Relation zur Stapelbarkeit und Größe handelsüblicher Umzugskartons. Mit Hilfe eines im Antiquariat günstig erstandenen Mathematiklehrbuchs kritzelte er wochenlang Servietten, Blöcke und alles, was ihm unter die Finger kam, mit abenteuerlich anmutenden Formeln voll. Selbst beim gemeinsamen Abendessen schob er manchmal ruckartig den Teller zur Seite und begann wie ein Besessener auf den Servietten meterlange Zahlenkolonnen und Gleichungen zu notieren. Dabei murmelte er mit fanatisch blitzenden Augen vor sich hin. So übergeschnappt sein Verhalten wirkte: Zwei Tage vor der Abreise führte Baba meinerMutter, meinen zwei jüngeren Schwestern und mir voller Stolz seine Pack- und Planungsberechnungen in einer Art wissenschaftlicher Neujahrsansprache vor.
    »Genial, perfekt«, nickten wir mitfühlend, als unser Familienvorstand seine so langatmige wie mysteriöse Rede beendet hatte. Für uns war klar, dass sein armer Verstand die komplizierten Formelstudien nicht verkraftet hatte. Wie unrecht wir hatten. Ich weiß bis heute nicht, ob seine krude Theorie kompletter Humbug oder einfach genial war. Aber es war schlichtweg nicht zu glauben, wie präzise sich seine geheimnisvollen Berechnungen erfüllten und welche Unmengen an Kisten wir mit ihrer Hilfe in den Benz gequetscht bekamen.
    »Aber die Zeiten, Baba, haben sich geändert. Menschen in unseren Breitengraden wollen mehr Platz zum Leben als früher. Und Schwaben sind von Geburt an gewohnt, in großen Häusern zu leben, die ihnen ganz allein gehören. Es gibt dort seit Urzeiten ein Gesetz, das lautet: Schaffe, schaffe, Häusle baue.«
    »Schaffe, schaffe? Was heißt das?«
    »Hadi, hadi!«, erklärte ich.
    »Hadi, hadi, Häusle baue? Das ist Gesetz?«
    »Ist Gesetz, Baba.«
    »Schipinnen die, die Schwaben?«
    Tja, wer weiß. Habe ich schon erwähnt, dass meine Frau Schwäbin ist? Familie Häberle, Heilbronner Bürgeradel. Schwäbischer geht’s kaum. War mein Vater von unserer Umzugsidee deshalb nicht begeistert, weil er unsere Wohnung groß genug fand, so lehnten meine Schwiegereltern unsere Pläne aus anderen Gründen ab.
    »Muratle, warum eine größere Wohnung suchen? Da könnt ihr doch lieber glei baue. Schaffe, schaffe, Häusle baue! Weischt?«
    Dieser Frontalangriff meiner Schwiegermutter bei einem opulenten Abendessen in Heilbronn kam für mich nicht unerwartet, denn auch meine Frau hatte im Zuge unserer Zukunftsdiskussionen ähnliche Gedanken anklingen lassen. Mit Blick auf unsere schmale Haushaltskasse versuchte ich, Kompromisslösungen ins Spiel zu bringen. Man könnte ja zum Beispiel eine Mietwohnung mit großem Balkon suchen.
    »Muratle«, erwiderte meine Schwiegermama kopfschüttelnd. »Was isch a Balkon gege a eigene Garte? Denk an die Kinder. Von einem Balkon kann man rafalle.«
    »Von einem Baum auch.«
    Ich wusste, wovon ich sprach. Als Polizist hatte ich bei einem Einsatz erlebt, wie eine junge Frau aus noch nicht einmal einem Meter Höhe von einer Zwergmagnolie gefallen war

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