Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
verbreitet. Überall wurde gefeiert und gelacht. Alle waren glücklich. Alle – nur sie nicht.
Dabei hätte sie mitfeiern und mitlachen können, denn ihre Zukunft war nicht länger grau und einsam. Sie war erfüllt von Liebe und einem Glück, an das sie schon nicht mehr geglaubt hatte.
Kaum einen Mondwechsel, nachdem Keelin Sanforan verlassen hatte, war die Liebe ganz unverhofft zu ihr gekommen. Ein junger Hauptmann der Onur hatte ihr eines Abends beigestanden, als sie sich gegen einen Haufen betrunkener Krieger zur Wehr hatte setzen müssen. Und obwohl Wunandamazonen sich nicht gern von einem Mann helfen ließen, war es ihm gerade damit gelungen, ihr Herz zu gewinnen.
Sie hätte so glücklich sein können, aber solange Keelins Schicksal ungewiss blieb, würde ihre Liebe im Schatten bitterer Vorwürfe und Selbstzweifel stehen.
Ich trage die Schuld an seinem Tod.
Duana seufzte und wischte eine Träne fort.
Inahwen, so hieß es, sollte zuletzt an Keelins Seite gewesen sein, doch es gab auch Gerüchte, die Götter hätten ihn mit sich fortgetragen. Auch von Horus fehlte seitdem jede Spur. Das war jedoch nicht weiter verwunderlich. Jeder wusste, dass Falken vor Kummer starben, wenn … Duana gestattete es sich nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Der Wind drehte, frischte auf und trug ihr neben einem leichten Brandgeruch auch die Geräusche von Lachen und Musik zu. Auf dem großen Platz der Bastei wurde gefeiert und getanzt.
Sie spürte, wie sich ihr Kummer in Wut verwandelte. Litt sie denn nicht genug, dass der Wind sie auch noch verhöhnen musste, indem er ihr die Fröhlichkeit der anderen zutrug? Sie hatte sich voller Absicht hierher zurückgezogen. Nicht nur, weil es beim Falkenhaus ruhiger war als in der Bastei, sondern auch, weil sie sich Keelin hier wie an keinem anderen Ort nahe fühlte.
Duana erhob sich und strich ihr Gewand glatt. Sie würde sich einen anderen Platz suchen. Irgendwo, wo sie mit ihren Gedanken allein war. Sie wandte sich um und blickte ein letztes Mal nach Norden, wo ein dunkler Punkt vor dem Hintergrund des blauen Himmels ihre Aufmerksamkeit weckte.
Es ist ein Vogel, schalt sie sich in Gedanken. Ein ganz gewöhnlicher Vogel. Aber etwas hielt sie davon ab zu gehen. Gebannt beobachtete sie, wie der Vogel näher kam.
Ein Falke!
Ihr Herz schlug schneller, als sie den Umriss erkannte.
Ich bin am Falkenhaus, hörte sie die Stimme der Vernunft in sich flüstern. Hier fliegen täglich Falken ein und aus.
Und dennoch …
»Bitte«, flüsterte sie, und ihre Lippen bebten. »Bitte.«
Der Falke flog einen weiten Bogen, und für einen Augenblick blendete sie die Sonne. Dann hörte sie Flügel schlagen und wandte sich um. Der Falke hockte auf der Mauer, auf der sie eben noch gesessen hatte. Duana blinzelte gegen das Licht an, um besser sehen zu können.
Es war Horus.
»Horus!« So vorsichtig, als sei er nur ein Trugbild, das jeden Augenblick verschwinden könnte, trat sie auf den Falken zu. Sie hatte Horus und Keelin oft heimlich beobachtet. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Der Falke rührte sich nicht. Er saß ganz still und schaute sie aus seinen klugen Augen aufmerksam an.
»Du bist zurückgekommen!«
Ein heftiges Glücksgefühl schnürte Duana die Kehle zu, als ihr klar wurde, was das bedeutete. »Du … du lebst.«
Epilog
Die Nacht hatte ihr samtenes Tuch über Andrach gebreitet, eine klare, mondlose Nacht mit einem Himmel, der erfüllt war von Abermillionen Sternen.
Die Straßen der kleinen Stadt waren menschenleer, ein Teil der Laternen ausgeschaltet. Nichts rührte sich, alles lag in tiefem Schlummer. Nur Ajana konnte nicht einschlafen.
Das weiche Bett und die Daunendecken waren ihr noch immer ungewohnt, die Gerüche im Haus und die Geräusche, die von draußen hereindrangen, fremd und unheimlich: bellende Hunde in der Ferne, ein Zug, der ratternd über die Gleise fuhr, das leise Brummen der Flugzeugturbinen hoch oben in der Luft …
Sie erinnerte sich daran, ihr Zuhause einst als ruhig empfanden zu haben. Jetzt erschien es ihr unerträglich laut. Aber da war noch etwas, das sie nicht schlafen ließ, eine innere Unruhe, die sie nicht besänftigen konnte und die sie in Gedanken immer wieder dorthin führte, wo alles begonnen hatte: nach Nymath.
Ohne dass sie es wollte, dachte sie an das Land, das sie so dringend hatte verlassen wollen und nun so schmerzlich vermisste. Das Land, in dem sie ihre große Liebe gefunden und verloren hatte. Sie schlug die Decke zurück und stand
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