Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
saß im Korbstuhl vor dem Fenster, die leere Schatulle für das Amulett lag noch immer auf dem Schreibtisch.
Andächtig nahm sie das Amulett ab, legte es sorgfältig in die Schachtel zurück und verstaute diese in einer Schublade. Ihr Blick fiel auf den Nachttisch. Dort lagen sogar noch die Bücher, in denen sie gelesen hatte, bevor …
Ihr Blick fiel auf den Radiowecker. Fast neun Uhr. Sie musste sich beeilen. Hastig öffnete sie den Kleiderschrank, wählte ein paar Kleidungsstücke aus und eilte ins Badezimmer. Wenn ihre Eltern ausgegangen waren, würden sie sicher bald zurückkommen.
Eine Stunde später saß Ajana im Wohnzimmer. Ihre Haare waren gewaschen und gefönt. Mit Jeans und Shirt sah sie nun fast wieder so aus wie auf dem Foto. Die Kerzen des Adventskranzes brannten, und im Kamin knisterte behaglich ein Feuer.
Tick-tack, tick-tack. Die Zeit verstrich im Takt der alten englischen Standuhr. Voller Ungeduld beobachtete Ajana, wie sich die Zeiger langsam bewegten.
Und wenn sie über Nacht fort sind? Ajana hatte den Gedanken gerade zu Ende geführt, da huschte das Licht von Autoscheinwerfern durch den Raum. Sie hörte das Knirschen von Reifen auf Schnee und Motorengeräusche, die schließlich verstummten.
»Eins, zwei, drei.« Ajana zählte mit, während draußen nacheinander die Autotüren ins Schloss fielen.
Sie kommen.
Ihr Herz raste. Plötzlich hatte sie furchtbare Angst vor dem Wiedersehen. Schon hörte sie, wie die Haustür geöffnet wurde, und vertraute Stimmen, die leise miteinander redeten.
»Mam? Dad? … Rowen?« Schüchtern öffnete Ajana die Wohnzimmertür und trat in den Flur hinaus.
Schlagartig wurde es still. Ihre Eltern und ihr Bruder standen wie vom Donner gerührt und starrten sie an, als wäre sie ein Geist.
»A… Ajana?« Die Stimme ihrer Mutter war so dünn, als traue sie ihren Augen nicht. Hilfe suchend tastete sie nach dem Arm ihres Mannes.
»Ich bin zurück, Mam.« Ajana wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Zögernd breitete sie die Arme aus, machte einen Schritt auf die anderen zu und sagte: »Ich bin es wirklich.«
»Ajana!« Rowens Ausruf brach den Bann. Er wartete nicht, bis seine Mutter die Überraschung überwunden und sein Vater die Stimme wiedergefunden hatte. Er drängte sich einfach an den beiden vorbei und schloss Ajana überschwänglich in die Arme. »Ich wusste es, kleine Schwester!«, sagte er glücklich. »Ich wusste die ganze Zeit, dass du zurückkommst.«
***
Duana saß auf einer Steinmauer nahe dem Falkenhaus. Die Sonne wärmte ihr den Rücken, und ein leichter Seewind liebkoste ihre Wange, während sie gedankenverloren nach Norden blickte.
Es war Sommer. Viermal hatte der Mond gewechselt, seit sie Keelin an jenem schicksalhaften Tag im frühen Lenz ihre Zuneigung hatte gestehen wollen.
Die Tage, die darauf folgten, waren von stetem Bangen und großer Ungewissheit erfüllt gewesen. Belastende Gefühle, die auch mit Inahwens Rückkehr nach Sanforan kein Ende gefunden hatten.
Im Nachhinein fragte sich Duana, ob es anders gekommen wäre, wenn sie den Sturz nicht vorgetäuscht und Ajana sie nicht in Keelins Armen vorgefunden hätte.
Wäre Abbas dann noch am Leben?
Wäre Ajana dann in Nymath geblieben?
Wäre Keelin dann nicht …?
Sie gestattete es sich nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Zu sehr hatte sie schon mit dem Schicksal gehadert, zu viele Tränen vergossen. Abbas war tot. Keelin galt als verschollen, und die Stimmen, die seinen Tod bekundeten, wurden mit jedem Tag lauter.
Niemand hatte ihr je einen Vorwurf gemacht, aber tief im Innern wusste sie, dass sie teilhatte an seinem Schicksal. Hätte sie Keelin nicht angesprochen … wäre sie nicht in den Stall gegangen … hätte sie damals nicht so selbstsüchtig gehandelt …
Hunderte von Möglichkeiten, die das Unglück hätten verhindern können, gingen ihr durch den Kopf. Es gab keinen Trost und keine Hoffnung. Inahwen, Kruin und Aileys waren allein aus Andaurien zurückgekehrt. Was sie zu berichten wussten, hatte in Nymath eine nie gekannte Hochstimmung ausgelöst und die Zukunft der Vereinigten Stämme in einem neuen, verheißungsvollen Licht erstrahlen lassen. Die Menschen in Andaurien hatten sich von dem dunklen Gott losgesagt und sich aus ihrer Knechtschaft befreit. Nach den vielen hundert Wintern der Trennung stand den Nachkommen der Flüchtlinge der Weg in die alte Heimat nun endlich wieder offen.
Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer im Land
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