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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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ein wahrer Teufelstrank, der die Wangen rötete und dem Mund Lästerungen entlockte. Mutter Isolde hatte ihn lediglich der Form halber getadelt, denn das Bewusstsein, sich damit die schmerzenden Glieder einreiben zu können, machte sie überglücklich. Als sie sich vorbeugte, um einen Sack Saubohnen abzuladen, hatte sie in einem Winkel eine zusammengekrümmte Gestalt gesehen: eine Nonne, die Gasparo, wie er sagte einige Meilen vom Kloster entfernt aufgesammelt hatte. Ihre Hände und Füße waren mit Lumpen umwickelt und das Gesicht hinter einem dichten Schleier verborgen. Die tiefen Falten an ihrem Hals zeigten, dass sie schon ziemlich alt sein musste, doch weder an ihrem von Dornen zerfetzten und von Straßenkot beschmutzten weißen Habit noch an dem tiefroten Samtumhang, auf den eine Art Wappen gestickt zu sein schien, ließ sich erkennen, welchem Orden sie angehörte.
    Als sich Mutter Isolde über sie beugte und den Staub auf dem Wappen beiseitewischte, wurden ihre Finger vor Entsetzen starr: vier safran-und goldfarbene Arme auf blauem Grund! Das Kreuz des heiligen Ordens der Weltfernen Schwestern vom Mons Cervinus! Sie wusste, dass diese Nonnen abgeschieden und in tiefem Schweigen in einem festungsähnlichen Felsenkloster dicht unter dem Gipfel jenes Berges lebten. An einem Ort, der so unzugänglich war, dass man ihn ausschließlich mittels an Seilen gezogener Körbe versorgen konnte. Die Hüterinnen der Welt.
    Niemand hatte je das Gesicht einer von ihnen gesehen oder ihre Stimme gehört. Man erzählte sich, sie seien hässlicher und widerwärtiger als der Teufel, tränken Menschenblut und ernährten sich von ekelhaften Schleimsuppen, die ihnen die Gabe der Wahrsagung und des Zweiten Gesichts verliehen. Im Volk umlaufende Gerüchte nannten die Schwestern Hexen und Engelmacherinnen, und es hieß, sie seien auf alle Zeiten hinter die Mauern ihres abgelegenen Bergklosters verbannt, weil sie sich des gotteslästerlichen Verbrechens der Menschenfresserei schuldig gemacht hätten. Andere erzählten, sie seien in Wahrheit seit Jahrhunderten tot und verwandelten sich jeweils bei Vollmond in Vampire, die auf der Suche nach verirrten Wanderern über den Alpengipfeln schwebten. Wann immer Gebirgler bei abendlichen Zusammenkünften solche Geschichten erzählten, machten sie vorsichtshalber das Zeichen des Gehörnten, um den bösen Blick abzuwehren. Im Aostatal wie auch in den Dolomiten verriegelten die Menschen ihre Türen, wenn jemand diese Weltfernen Schwestern nur erwähnte, und selbst ihre Hunde bellten dann.
    Niemand wusste, auf welche Weise jener geheimnisvolle Orden neue Mitglieder gewann. Die Bewohner des Dorfs Pratobornum am Fuß jenes Berges glaubten bemerkt zu haben, dass sie, wenn eine aus ihrer Gemeinschaft starb, Brieftauben ausschickten, die sich romwärts wandten, nachdem sie einige Male über den hohen Türmen des Klosters gekreist waren. Wochen später dann tauchte in der Ferne auf dem Bergpfad, der ins Dorf führte, ein geschlossener Wagen auf, den ein Dutzend Ritter des Vatikans begleitete. An ihm waren Glocken angebracht, die seine Ankunft verkündeten. Sobald die Menschen ihren Klang hörten, schlossen sie die Fensterläden und bliesen die Kerzen aus. Dann warteten sie, im kalten Halbdämmer dicht aneinandergedrängt, bis das schwere Gespann auf die Maultierpfade eingeschwenkt war, die zu den steil über dem Dorf aufragenden Felswänden des Mons Cervinus führten.
    Am Fuß des Berges angelangt, stießen die Ritter des Vatikans in ihr Horn. Daraufhin wurde an einem Seil, das über eine quietschende Rolle lief, ein ledernes Geschirr hinabgelassen. Dieses legte man der Novizin um, die mit dem Wagen gekommen war. Dann wurde viermal am Seil geruckt, um anzuzeigen, dass alles bereit war. Jetzt senkte sich am anderen Ende des Seils der Sarg mit der Verstorbenen langsam herab, während die Novizin dicht vor der Steilwand emporgezogen wurde. Auf diese Weise begegnete die Lebende auf halbem Weg zu ihrem Kloster der Toten, die es verließ.
    Sobald der Sarg eingeladen war, den man vermutlich an geheimer Stelle beisetzen würde, kehrte der Wagen zum Dorf zurück. Während dessen Bewohner beobachteten, wie sich der geisterhafte Zug entfernte, begriffen sie, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, das Kloster zu verlassen, und dass die Unglücklichen, die dort eintrafen, bis ans Ende ihrer Tage dort bleiben mussten.

5
    Da es Außenstehenden verboten war, das Gesicht von Angehörigen des Ordens der Weltfernen

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