Das Evangelium nach Satan
Schwestern zu sehen, hob Mutter Isolde den Schleier nur so weit an, dass er den Mund nicht mehr bedeckte, und hielt einen Spiegel vor die von Qualen verzerrten Lippen. Er beschlug leicht, ein Hinweis darauf, dass die Alte noch atmete. Doch zeigten der Oberin die Schmerzenslaute, die sich der Brust der völlig erschöpften und bis auf die Knochen abgemagerten Alten entrangen, dass sie wohl nicht mehr lange zu leben hatte. Sicherlich lag eine schlechte Vorbedeutung darin, dass die uralte Angehörige des Ordens der Weltfernen Schwestern entgegen der Überlieferung außerhalb der Mauern ihres Klosters sterben würde.
Während Mutter Isolde auf den letzten Atemzug der Alten wartete, versuchte sie, sich an das zu erinnern, was sie über jenen geheimnisvollen Orden wusste.
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Eines Nachts, als die Ritter des Vatikans wieder einmal eine Novizin zum Kloster unter dem Gipfel des Mons Cervinus brachten, waren junge Männer und Ungläubige aus dem Dorf dem Zug heimlich gefolgt. Sie wollten einen Blick auf den Sarg erhaschen, der abgeholt werden sollte. Mit Ausnahme eines etwas einfältigen jungen Ziegenhirten, der in den Vorbergen lebte und den man am nächsten Morgen auffand, war keiner von diesem nächtlichen Ausflug zurückgekehrt.
Der junge Mann stammelte, halb verrückt und vor Entsetzen zitternd, er habe von ferne im Schein der Fackeln gesehen, wie der Sarg aus den Nebelschwaden herabgesunken war und sich am Ende des Seils sonderbar bewegt habe, als sei die Nonne darin noch am Leben. Als Nächstes sei die Novizin aufwärts entschwunden, von unsichtbaren Schwestern emporgezogen. Etwa fünfzig Ellen über dem Boden sei das Hanfseil gerissen, an dem der Sarg hing, und dessen Deckel beim Aufprall zersprungen. Vergeblich hätten sich die Ritter bemüht, die junge Nonne aufzufangen, die sich auf dem Weg nach oben befand – die Unglückliche sei auf die Felsen geprallt, ohne einen Laut von sich zu geben. Im selben Augenblick habe man aus dem zersplitterten Sarg einen Schrei wie aus der Kehle eines wilden Tieres vernommen, und er habe gesehen, wie sich die blutbedeckten Hände einer alten Frau herausgestreckt hätten, um die Lücke im Sargdeckel zu vergrößern. Daraufhin, fuhr er fort, habe einer der Ritter das Schwert gezogen, die Stiefelsohle auf die Finger der Alten gesetzt und das Schwert tief in den Sarg gestoßen. Da hätten die Schreie aufgehört. Anschließend hätten die anderen Ritter den Sarg in aller Eile wieder zugenagelt und aufgeladen, während der eine das Schwert an seinem Wams abgewischt habe. Was der arme verwirrte Ziegenhirte weiter berichtet hatte, verlor sich in einem unverständlichen Gewirr von Worten, dem sich lediglich entnehmen ließ, der Ritter, der der Nonne das Schwert in den Leib gestoßen hatte, habe den Helm abgenommen. Dabei habe sich gezeigt, dass sein Gesicht keinerlei Ähnlichkeit mit dem eines Menschen hatte.
Dieser Bericht genügte, um dem Gerücht Nahrung zu geben, die Schwestern vom Mons Cervinus stünden mit den Mächten der Finsternis im Bunde und Satan selbst suche das Kloster auf, um sich dort zu holen, was ihm gehörte. Ganz bewusst unternahm man in Rom nichts, um diesen Gerüchten, die jeder Grundlage entbehrten, entgegenzutreten, war man doch überzeugt, dass der heilige Schrecken, den sie verbreiteten, das Geheimnis des Ordens der Weltfernen Schwestern weitaus wirkungsvoller zu bewahren vermochte als Festungsmauern.
Doch war einigen Oberinnen, unter ihnen Mutter Isolde, bekannt, dass das Felsenkloster Unserer lieben Frau vom Mons Cervinus über den bedeutendsten Bestand verbotener Bücher der ganzen Christenheit verfügte. In den Tiefen der Kellergeschosse sowie in anderen verborgenen Räumen wurden Tausende satanischer Bücher aufbewahrt, vor allem aber die Schlüssel zu Geheimnissen, die so bedeutend, und zu Lügen, die so widerwärtig waren, dass ihre Enthüllung die Kirche in Gefahr gebracht hätte. Ketzerische Evangelien, die der Inquisition in den Hochburgen der Katharer und Waldenser in die Hände gefallen waren, Berichte von Abtrünnigen, die Kreuzfahrer in den Festungen des Morgenlandes an sich gebracht hatten, Pergamente, die teuflische Praktiken beschrieben, und verfemte Bibelfassungen – all das hüteten diese alten Nonnen, die durch Entsagung geradezu versteinert waren, hinter den Mauern ihres Klosters, damit die Menschheit vor ihrem abscheulichen Inhalt bewahrt blieb. Nur das, und nichts anderes, hatte die Mitglieder dieses schweigsamen Ordens dazu
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