Das Foucaultsche Pendel
Martinesisten (Anhängern jenes Martines de Pasqually, den Agliè so wenig mochte) und da Pasqually einem verbreiteten Gerücht zufolge Jude war, konnte man, indem man die Juden diskreditierte, die Martinisten diskreditieren, und indem man die Martinisten diskreditierte, Philippe erledigen.
Tatsächlich war eine erste, unvollständige Version der Protokolle bereits 1903 in der Zeitung Snamja erschienen, einem Petersburger Blatt unter Leitung des militanten Antisemiten Chruschtschewan. 1905 war diese erste Version dann von neuem, ergänzt und mit dem Placet der Zensurbehörde versehen, in einem anonymen Buch mit dem Titel Die Quelle unserer Übel erschienen, das vermutlich von einem gewissen Butmy stammte, der zusammen mit Chruschtschewan an der Gründung jener »Union des Russischen Volkes« beteiligt gewesen war, die später als »Schwarze Hundertschaften« bekannt wurde und gewöhnliche Kriminelle anheuerte, um Pogrome und rechtsextreme Attentate zu begehen. Butmy soll danach, diesmal unter seinem Namen, noch weitere Ausgaben des Werkes herausgebracht haben, nun unter dem Titel Die Feinde der menschlichen Rasse — Protokolle aus den geheimen Archiven der zentralen Kanzlei von Zion.
Aber das waren billige Heftchen. Die erweiterte Version der Protokolle, jene, die dann in alle Weltsprachen übersetzt werden sollte, erschien 1905 im Anhang zur zweiten Auflage des Buches von Sergej Nilus, Das Große im Kleinen: Nahe ist der herandrängende Antichrist und das Reich des Teufels auf Erden, Zarskoje Selo, gefördert von der lokalen Sektion des Roten Kreuzes. Der Rahmen war eine weitergespannte mystische Reflexion, und das Buch gelangte in die Hände des Zaren. Der Metropolit von Moskau ordnete seine Verlesung in allen Moskauer Kirchen an.
»Aber was haben denn diese Protokolle mit unserem Großen Plan zu tun?« fragte ich. »Dauernd ist hier von diesen Protokollen die Rede. Müssen wir die etwa lesen?«
»Nichts ist leichter als das«, antwortete Diotallevi. »Es gibt immer wieder einen Verlag, der sie neu herausbringt. Und wenn sie's früher noch mit dem Gestus der Abscheu taten, angeblich bloß zu Dokumentationszwecken, tun sie's jetzt wieder mehr und mehr mit Befriedigung.«
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Die einzige uns bekannte Gesellschaft, die fähig wäre, uns in diesen Künsten Konkurrenz zu machen, könnte die der Jesuiten sein. Aber es ist uns gelungen, die Jesuiten in den Augen des dummen Plebs zu diskreditieren, einfach weil diese Gesellschaft eine offen auftretende Organisation ist, während wir uns hinter den Kulissen halten und das Geheimnis wahren.
Protokolle, V
Die Protokolle sind eine Serie von vierundzwanzig programmatischen Erklärungen einer angeblichen Geheimkonferenz angeblicher Weiser von Zion. Die Aussagen dieser Weisen kamen uns ziemlich widersprüchlich vor: Mal wollen sie die Pressefreiheit abschaffen, mal das Freidenkertum ermuntern. Sie kritisieren den Liberalismus, aber ihr Programm ähnelt dem, das die radikale Linke den multinationalen Konzernen zuschreibt, inklusive der Rolle des Sports und der visuellen Erziehung als Mittel zur Volksverdummung. Sie analysieren diverse Methoden zur Erlangung der Weltherrschaft, und sie preisen die Macht des Goldes. Sie beschließen, in allen Ländern die Revolutionen zu unterstützen, durch Ausnutzung der Unzufriedenheit im Volke und durch Verwirrung des Volkes mit liberalen Ideen, aber sie wollen die Ungleichheit fördern. Sie planen, überall Präsidentialregime einzusetzen, die von ihren Strohmännern kontrolliert werden. Sie wollen Kriege schüren, sich für die Aufrüstung stark machen und (das hatte mir schon Salon gesagt) den Bau von Untergrundbahnen propagieren, um die großen Städte in die Luft zu sprengen.
Generell erklären sie, daß der Zweck die Mittel rechtfertige, und nehmen sich vor, den Antisemitismus zu ermuntern, sowohl um die mittellosen Juden unter ihre Kontrolle zu bringen wie um bei den Nichtjuden ein Schuldgefühl angesichts ihrer Not zu erzeugen (teuer erkauft, meinte Diotallevi, aber wirksam). Sie versichern treuherzig: »Wir haben einen grenzenlosen Ehrgeiz, eine verzehrende Habgier, einen erbarmungslosen Rachedurst und einen glühenden Hass« (und offenbar auch einen erlesenen Masochismus, denn sie reproduzieren lustvoll genau das Klischee des bösen Juden, das bereits in der antisemitischen Presse umgeht und die Umschläge aller Ausgaben ihres Buches zieren wird), und sie beschließen, das Studium der Klassiker und der antiken Geschichte
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