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Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel

Titel: Das Foucaultsche Pendel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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nach meiner Ankunft hatte ich den bewussten Wandschrank geöffnet. Borde und Fächer voller Papiere, von den Schulaufsätzen des Grundschülers bis zu Heften und Bündeln voller Gedichte und Prosa des Heranwachsenden. Jeder hat als Heranwachsender Gedichte geschrieben, die wahren Dichter haben sie dann vernichtet, die schlechten haben sie veröffentlicht. Belbo war zu nüchtern, um sie aufzuheben, und zu schwach, um sie zu vernichten. So begrub er sie in Onkel Carlos Schrank.
    Ich las einige Stunden lang. Und weitere lange Stunden, bis zu diesem Moment, habe ich über den letzten Text nachgedacht, den Text, den ich schließlich gefunden hatte, als ich die Suche gerade aufgeben wollte.
    Ich weiß nicht, wann ihn Belbo geschrieben hat. Es sind Seiten und Seiten, auf denen sich verschiedene Handschriften überschneiden, oder es ist dieselbe Handschrift zu verschiedenen Zeiten. Als hätte er den Text sehr früh geschrieben, mit sechzehn oder siebzehn Jahren, ihn dann weggelegt und mit zwanzig wieder hervorgeholt, und mit dreißig wieder und womöglich später noch einmal. Bis er dann auf das Schreiben verzichtete und erst mit Abulafia wieder anfing, aber ohne zu wagen, diese Zeilen wieder hervorzuholen und sie der elektronischen Demütigung auszusetzen.
    Beim Lesen schien mir, als setzten sie eine bekannte Geschichte fort: die Ereignisse in *** von 1943 bis 1945, mit Onkel Carlo, den Partisanen, dem Oratorium, Cecilia und der Trompete. Den Prolog kannte ich, das waren die obsessiven Themen des romantischen, betrunkenen, enttäuschten und leidenden Belbo. Memoirenliteratur, das wusste auch er, ist die letzte Zuflucht der Canaillen.
    Aber ich war kein Literaturkritiker, ich war einmal mehr Sam Spade, auf der Suche nach der letzten Spur.
    Und so fand ich den Schlüsseltext. Er bildet vermutlich das letzte Kapitel von Belbos Geschichte in ***. Danach kann nichts mehr geschehen sein.

119
    Dann sobald das Laubwerck oder Krantz am Rohr angezündet wurde, sahe ich zu oberst das Loch eröffnen und ein hellen Feuerstriemen durch das Rohr hinabschießen und in den Leichnam fahren. Darauf wurde das Loch wider verdecket und die Posaun weggeraumbt.
    Johann Valentin Andreae, Die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, Straßburg 1616, 6, p. 126
     
    Der Text hat Lücken, Überlappungen, unklare Stellen, Streichungen. Ich rekonstruiere ihn mehr, als dass ich ihn lese, ich lebe ihn nach.
    Es muß gegen Ende April 45 gewesen sein. Die deutsche Wehrmacht war geschlagen, die Faschisten zerstreuten sich, auf jeden Fall war *** bereits fest in der Hand der Partisanen. Nach der letzten Schlacht, derjenigen, von der uns Jacopo in diesem Hause erzählt hatte (vor fast zwei Jahren), hatten sich mehrere Partisanenbrigaden in *** versammelt, um dann in die Provinzhauptstadt zu marschieren. Sie warteten auf ein Signal von Radio London, sie sollten aufbrechen, wenn Mailand zum Aufstand bereit war.
    Auch die kommunistischen Garibaldiner waren gekommen, befehligt von Ras, einem Riesen mit schwarzem Bart, der im Ort sehr beliebt war. Sie trugen Fantasieuniformen, alle voneinander verschieden, nur die Halstücher und der Stern auf der Brust waren immer gleich, beide rot, und sie waren bewaffnet, wie's gerade kam, der eine mit einem alten Karabiner, der andere mit einer vom Feind erbeuteten MP. Ganz anders dagegen die Badoglianer mit ihren blauen Halstüchern, in Khaki-Uniformen ähnlich denen der Engländer und mit brandneuen Stens. Die Alliierten unterstützten die Badoglianer durch großzügige Nachschublieferungen, die nachts mit Fallschirmen abgeworfen wurden, nachdem pünktlich um elf, wie er's allabendlich seit zwei Jahren tat, der mysteriöse »Pippetto« vorbeigeflogen war, ein englischer Aufklärer, bei dem niemand kapierte, was der da aufklären mochte, denn Lichter waren über Kilometer und Kilometer keine zu sehen.
    Es gab Spannungen zwischen Garibaldinern und Badoglianern, angeblich hatten die Badoglianer sich am Abend der Schlacht mit dem Ruf »Vorwärts Savoyen!« auf den Feind gestürzt, aber einige von ihnen sagten, das sei nur aus Gewohnheit gewesen, was solle man denn sonst beim Angriff rufen, das heiße noch lange nicht, dass sie Monarchisten seien, sie wüssten selber, dass der König beträchtliche Mitschuld habe. Worauf die Garibaldiner grienten, man könne wohl »Vorwärts Savoyen!« brüllen, wenn man auf offenem Feld mit aufgepflanztem Bajonett voranstürme, aber nicht, wenn man mit der Sten in der Hand hinter eine Hausecke

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