Das fremde Haus
überall in Cambridge verfolgt, mit der Kamera in der Hand. Übrigens, wenn Du ihn bitten könntest, das sein zu lassen, wäre ich Dir sehr dankbar.
Eins möchte ich noch klarstellen: Ja, ich habe gesagt, dass er mich nicht verlassen hat, aber ich sage nicht, dass ich ihn verlassen habe, wie du anzunehmen scheinst. Niemand hat irgendwen verlassen – WIR HATTEN NIE EINE BEZIEHUNG! Ich sollte Dir das alles gar nicht erzählen müssen – wenn du nicht spürst, dass ich Deine Freundin bin und er ein echter Widerling, gibt es keine Hoffnung für Dich.
Elise
Freitag, 17. September 2010
Ich sollte mich hinsetzen und mich entspannen, aber ich kann nicht. Ich stehe am Wohnzimmerfenster, neben dem Weihnachtsbaumfleck. Ich warte. In zwanzig Minuten will sie hier sein. Als ein Auto vor dem Haus parkt, gehe ich davon aus, dass es jemand anderes ist. Eine hochgewachsene Rothaarige mit langem, elegantem Hals steigt aus. Das kann nicht Lorraine Turner sein, sage ich mir, es muss irgendjemand anderes sein.
Ich irre mich. »Tut mir leid, ich bin zu früh«, sagt sie und schüttelt mir die Hand.
»Ich bin froh, dass Sie hier sind«, entgegne ich. »Kommen Sie doch herein.«
Sie tritt über die Schwelle, zögernd, als fürchte sie, sie könne es bereuen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich das verstehe«, sagt sie und gibt mir damit die Gelegenheit, es zu erklären, wenn ich es will.
Ich will es nicht. Ich lächle und schweige.
»Sie sind sich absolut sicher, dass Sie das Haus verkaufen wollen?«, fragt sie.
»Ja.« Sie kann mich nicht allzu sehr ausquetschen, ohne unhöflich zu wirken. Da sie ein wenig von dem weiß, was ich durchgemacht habe, wird sie mich nicht aufregen wollen.
Sie macht einen letzten Versuch, mich zum Reden zu bringen. »Wann haben Sie den Kauf abgeschlossen?« Immobilienmakler-Sprache.
»Gestern. Danach habe ich Sie sofort angerufen.«
Jetzt gibt sie auf und geht nach oben, um ihre Fotos zu machen. Sobald sie den Raum verlassen hat, bereue ich meine Zurückhaltung. Sie macht einen netten Eindruck, und ich muss aufhören anzunehmen, dass man niemandem trauen kann. Die meisten Menschen sind nicht wie Kit Bowskill und Jackie Napier.
Niemand ist Kit Bowskill, und niemand ist Jackie Napier – nicht mehr.
Wenn Lorraine wieder herunterkommt, werde ich es ihr vielleicht erzählen. Ich schäme mich nicht deswegen. Ich habe Bentley Grove 11 gekauft, weil ich es Selina Gane versprochen hatte. Wie hätte ich sie auch im Stich lassen können, nachdem ich ihr mein Wort gegeben hatte? Als ich ihr das Versprechen gab, dachte ich, ich würde in der Nummer 11 leben können, weil hier nichts Schlimmes passiert ist – weil es nicht Nummer 12 ist. Wenn alles anders gekommen wäre, hätte ich es vielleicht auch tun können – wenn ich nicht in diesem Zimmer mit den Fliegen und den eingewickelten Leichen gelandet wäre, hilflos vor Entsetzen … Aber nach dem, was ich durchgemacht habe, kann ich nicht im Bentley Grove wohnen. Es wäre unmöglich.
Also werde ich mein neues Haus wieder verkaufen, das ich erst gestern gekauft habe. Und wenn das erledigt ist, werde ich mir ein anderes Haus in Cambridge kaufen, in einer anderen Straße. Es gab da ein paar Objekte bei Roundthehouses, die ganz vielversprechend aussahen. Aber erst einmal werde ich schauen, welches der Colleges ich besuchen werde – vielleicht kaufe ich mir dann etwas in der Nähe. Fran rief gestern an und erzählte mir von einem College in Cambridge, das besonders ältere Studentinnen fördert. Ihre Ermutigung macht wenigstens teilweise wett, dass meine Eltern zum Thema meines verspäteten Studiums schweigen.
Bentley Grove 11 ist nicht das Einzige, das ich verkaufen werde. Die London Allied Capital Bank wird mir Nulli Secundus abkaufen, für ungefähr die Hälfte seines Werts, aber wie viel ich dafür bekommen werde, ist mir nicht wichtig – alles, was für mich zählt, ist meine Freiheit. Ein Neuanfang.
Ich höre Lorraine oben herumgehen. Sie wird bald wieder herunterkommen. Ich öffne die Tasche, die ich mitgebracht habe. Noch eine unerledigte Sache, um die ich mich kümmern muss. Ich nehme den Druck heraus, den Kit mir vor Jahren zu Weihnachten geschenkt hat – das lachende Mädchen, das auf den Stufen von King’s College Chapel sitzt – und schiebe ihn hinter das Sofa, das Selina Gane nicht mitgenommen hat. Es ist ein schönes Bild, und ich bringe es nicht über mich, es wegzuwerfen, obwohl ich es nicht behalten will. Vielleicht werden die neuen
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