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Das Geheimnis der toten Vögel

Das Geheimnis der toten Vögel

Titel: Das Geheimnis der toten Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Jansson
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es sonniger, aber Ruben fröstelte trotzdem. Hier lag seine Mutter, Siv Nilsson, begraben, und die kleine Emelie, die im Jahr nach Eriks Geburt gestorben war. Ruben konnte sich vage an sie erinnern, ein schreiendes Bündel in einem Korb mit rosa Himmel aus dünnem Stoff. Ein paar strampelnde Füße und eine spitzenbesetzte Mütze, die fast das ganze kleine Gesicht verbarg.
     
    Der alte Vater lebte im Heim, in seiner eigenen Welt, in der sich Siv in Hörweite in der Küche befand und dort mit der Kaffeekanne auf dem Herd klapperte. Um fünf Uhr wollte er aufstehen und die Kühe melken, schlief aber dankbar wieder ein, wenn einer vom Nachtdienst versprach, sich um die Sache zu kümmern. Und wenn er Kaffee ans Bett kriegte, obwohl er nicht Geburtstag hatte, dann fand er, es sei fast wie im Himmel.
     
    »Ach ja, Mama, weißt du noch, wie du mit mir über Angela reden wolltest?«, fragte er und legte seine Hand auf den Grabstein. »Das ist jetzt fünfzig Jahre her, und es war der schlimmste Tag meines Lebens.« Ruben setzte sich ins Gras und lehnte den Kopf schwer an den Stein. Mit einem Mal fühlte er sich so matt. Bestimmt hatte er sich eine Erkältung geholt, er spürte es im Hals.
     
    Wahrscheinlich hatte er Fieber. Das war nicht gut im Hinblick auf den Brieftaubenwettkampf am Wochenende. Mit den schnellen Jungtauben, die er ausgewählt hatte, müsste er diesmal gute Chancen auf den Wanderpokal haben. Er schloss die Augen, und plötzlich drängte sich die Erinnerung an Angela wieder mit voller Kraft heran. Seine Bauchmuskeln spannten sich wie zur Verteidigung an. Hinter den Augenlidern brannte es, und er ließ die Gedanken und die Tränen kommen. Es war das Fieber, das ihn jammerig und weinerlich machte, da war er sich ganz sicher. Sonst hätte er nicht dagesessen, wo ihn jeder sehen konnte, und geschnieft und sich komisch benommen.
     
    Seit jenem Mittsommerabend war Angela irgendwie verändert gewesen. Ruben konnte sich nicht erklären, warum. Sie hatte schon immer über das Leben und den Tod und den Sinn, der darin liegen könnte, nachgegrübelt, aber seit dem Motorradunfall war es noch schlimmer als vorher.
     
    »Man hat nur ein Leben und so viele Möglichkeiten. Woher weiß man denn, ob man die richtige wählt? Damit man es hinterher nicht bereut und dann alles zu spät ist, meine ich.« Er wusste es nicht, darüber hatte er nie nachgedacht. Es war doch alles gut, so wie es war. Man stand morgens auf, tat seine Arbeit, und das war es.
     
    Angela hatte Arbeit in der Konservenfabrik von Klinteby gefunden, und abends, wenn Ruben mit dem Fahrrad kam, um sie zu besuchen, wollte sie immer nur schlafen. Aber an den Wochenenden, wenn sie freihatte, kam es vor, dass sie nach Björkhaga oder Tofta zum Baden fuhren. Sie lud ihn nicht mehr zu Küssen oder Zärtlichkeiten ein. Es schien, als sei nach den verspielten Momenten am Ballastkai das Verzauberte verloren gegangen, und er wusste nicht, was er tun konnte, um es zurückzubekommen. »Wir hätten tot sein können, Erik und ich«, sagte sie immer und immer wieder. »Stell dir vor, wenn es so wäre … wenn wir wirklich tot wären … und dieses Leben hier wäre gar nicht das richtige, sondern wir täten nur weiterhin so als ob, weil der Tod so schlimm wäre. Nicht mehr da zu sein, das macht mir Angst. Verstehst du das, Ruben? Verstehst du, was ich sage? Aber vielleicht kann man mehrere Leben parallel leben. Dieser Gedanke gefällt mir, denn dann muss man nicht wählen und kann auch keine Fehler machen. Mehrere Leben parallel, so wie der Baum sich verästelt, verstehst du?«
     
    »Nein, aber ich höre es mir trotzdem gern an«, hatte er in dem Versuch geantwortet, die Wahrheit zu sagen und es ihr dennoch recht zu machen.
     
    Sie gingen mehr wie Freunde oder Geschwister miteinander um denn als Liebespaar. Deshalb erstaunte es ihn, als sie ihn eines Abends bat, mit ihr auf ihr Zimmer zu kommen. Da war etwas in ihrem Blick. An dem Abend war nichts wie sonst.
     
    »Niemand ist zu Hause«, hatte sie gesagt, »die kommen nicht vor morgen Mittag zurück.« Mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit hatte sie begonnen, sich vor ihm auszuziehen. Er hatte wie versteinert dagestanden und sie angeschaut. Als sie den Pullover über den Kopf zog und er sah, dass sie keinen BH trug, wusste er nicht, wohin er schauen sollte. Dann stieg sie aus dem Rock und aus der Unterhose und sah ihn ernst an. Sie war niemals schöner gewesen und hatte auch niemals trauriger ausgesehen als in

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