Das Geheimnis meiner Mutter
Menschen zu lesen.
„Ja, sehr“, gab Jenny zu. „Und ich dachte immer, ich wäre darauf vorbereitet. Ich weiß nicht, warum es mich so erschüttert. Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Falsch, ich bin grottenschlecht darin. Schlecht darin, die Toten zu betrauern und alleine zu leben.“ Sie straffte ihre Schultern und versuchte, den Anfall von Panik und Melancholie abzuschütteln. Doch das gelang ihr nicht. Irgendwie hatte sie die Kontrolle verloren, und obwohl sie spürte, dass sie drauf und dran war zusammenzubrechen, konnte sie nichts dagegen tun. Das machte ihr Angst.
Irgendwo draußen heulte eine Sirene auf. Das Geräusch wurde lauter, klang verzweifelt, wie ein Schrei. Ein paar Hunde fielen heulend ein. Automatisch drehte Jenny sich um, um durch die Schwingtüren zu dem Fenster im noch dunklen Café zu schauen. Das Städtchen Avalon, New York, war klein genug, dass der Klang von Sirenen mitten in der Nacht noch Aufmerksamkeit erregte. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte sie dieses Geräusch das letzte Mal gehört, als sie den Rettungswagen gerufen hatte.
Sie hatten sie nicht mit ihrer Großmutter zusammen ins Krankenhaus fahren lassen. Sie hatte mit ihrem eigenen Auto zum Benedictine Hospital in Kingston hinterherfahren müssen. Dort angekommen, hatte sie ihre Großmutter angefleht, ihre Anordnung auf Verzicht zur Wiederbelebung rückgängig zu machen, die sie nach ihrem ersten Schlaganfall unterschrieben hatte. Aber Granny hatte davon nichts hören wollen. Jenny war nichts anderes übrig geblieben, als sich von ihrer geliebten Großmutter zu verabschieden, deren Lebenskraft immer weiter schwand.
Sie spürte, dass eine neue Panikattacke dabei war, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. Also behielt sie den stetigen Knetrhythmus bei, den ihre Großmutter ihr beigebracht hatte, und bearbeitete den Teig mit ruhiger Selbstsicherheit. Jeder, der ihr zuschaute, würde eine kompetente Bäckerin sehen; sie wusste, dass sie sich äußerlich nicht verändert hatte. Der sich in ihrem Inneren ansammelnde Druck war außen nicht sichtbar.
„Ich gehe mal kurz raus, um frische Luft zu schnappen“, sagte sie zu Laura.
„Ich habe gerade Sirenen gehört. Vielleicht taucht Loverboy ja auf.“
Loverboy war Lauras Spitzname für Rourke McKnight, den Polizeichef von Avalon. Seine Vorliebe für Frauen mit Modelmaßen war in einer so kleinen Stadt nicht unbemerkt geblieben. Jenny hingegen vermied es, ihn überhaupt irgendwie zu nennen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie und Rourke füreinander keine Fremden gewesen waren. Ganz im Gegenteil, sie hatten sich mit glühender Intimität gekannt, aber das war lange her. Seit Jahren hatten sie freiwillig kein Wort mehr miteinander gewechselt. Rourke kam jeden Morgen auf einen Kaffee in die Bäckerei, aber da Jenny oben in ihrem Büro arbeitete, kreuzten sich ihre Wege nie. Und sie beide arbeiteten hart daran, dass das auch außerhalb der Bäckerei so blieb.
Ihm aus dem Weg zu gehen bedeutete, dass sie sich an seine Gewohnheiten erinnern musste. Während der Woche hatte er ganz normale Bürozeiten, aber dank eines schmalen Budgets musste er sich mit einem unterdurchschnittlichen Gehalt zufriedengeben und mit einer Mannschaft, die selbst für Kleinstadtverhältnisse zu klein war. Also nahm er oft eine Extraschicht am Wochenende an und fuhr Streife wie jeder andere Polizist auch. Manchmal fuhr er sogar den Schneepflug für die Stadt. Jenny tat so, als wüsste sie nichts davon, als interessierte sie das Leben von Rourke McKnight nicht im Geringsten, und er erwiderte diesen Gefallen, indem er sie komplett ignorierte. Zur Beerdigung ihrer Großmutter hatte er allerdings Blumen geschickt. Die Nachricht auf der Karte war in ihrer Einsilbigkeit typisch für ihn: „Es tut mir leid.“ Der Strauß dazu war so groß gewesen wie ein VW Käfer.
Als sie ihren Parka anzog und durch die Hintertür nach draußen schlüpfte, merkte Jenny schon die inzwischen so vertrauten Anzeichen eines neuen Panikanfalls. Das fürchterliche Kribbeln der Kopfhaut, eine unsichtbare Armee von Ameisen, die ihre Wirbelsäule hochkletterte. Ihre Brust verengte sich und ihre Kehle schien sich zu verschließen. Trotz der eiskalten Temperaturen brach ihr der Schweiß aus. Dann begann das gespenstische Pulsieren am Rande ihres Sichtfelds.
Sie trat in die kleine Gasse hinter der Bäckerei und atmete tief ein. Als sie den beißenden Geschmack von Zigarettenrauch auf der Zunge spürte, stieß sie die Luft
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