Das Geheimnis von Vennhues
Er musste sich am Türrahmen abstützen, und dann an der Kommode neben dem Eingang. Trotzdem wirkte er auch mit seinen vierundsiebzig Jahren noch immer unumstößlich. Wie eine alte Eiche, die nicht so leicht zu fällen ist.
Im Kamin auf der Diele prasselte das Herdfeuer. Zwei Lehnsessel und ein Schaukelstuhl standen im Halbkreis davor, und auf einem Tischchen dampfte ein Kessel mit Glühwein.
Die Hitze des Feuers schlug ihm entgegen, und seine ausgekühlten Wangen flammten auf. Er sank in einen der Lehnsessel, und es dauerte nicht lange, da begann die Anspannung der letzten Tage von ihm abzufallen. Einige Dinge gibt es, dachte er, die ändern sich auch in hundert Jahren nicht. Die Hitze des Feuers und ein weicher Sessel im Rücken waren ihm mehr wert als alle Massagen dieser Welt.
Sein Vater ließ sich in den Schaukelstuhl sinken und schenkte ihm ein Glas Glühwein ein.
»Trink das, mein Junge. Du musst dich erst einmal aufwärmen.«
Er reichte ihm das Glas und lächelte. »Ich habe auf dich gewartet.«
Dann räusperte er sich, als hätte er mit dieser Bemerkung bereits zu viel von sich preisgegeben. »Zumindest hast du hierher gefunden«, fügte er hinzu. »Du hättest dich verlaufen können auf dem Weg. Es hat sich viel verändert. Du wirst es kaum wiedererkannt haben, unser Dorf.«
Peter Bodenstein nahm einen Schluck von dem Glühwein. Er fühlte sich, als wäre er nie weggewesen.
»Es hat sich wirklich viel getan, das habe ich bemerkt.« Er lächelte. »Was haben zum Beispiel Isforts mit ihrem Haus gemacht? Ich bin gerade dort vorbeigekommen. Das ist ja der schiere Prunk.«
Sein Vater sah ihn amüsiert an. »Der älteste Sohn ist an der Börse zu Geld gekommen. Für einen Neubau hat es nicht gereicht. Also haben sie so viel Pomp und Gloria über ihr kleines Haus geschüttet, dass alle sofort sehen müssen, dass sie nun wer sind. Allein die Schnitzereien am Giebel haben ein kleines Vermögen gekostet.«
»Das Häuschen muss doch ersticken unter all dem Zeug.«
»Das kannst du laut sagen«, sagte sein Vater. »Doch Karl Isfort stolziert nun bei jeder Gelegenheit vor der Fassade auf und ab, und dann sieht er aus, als würde er platzen vor Stolz.« Mit leichtem Spott schüttelte er den Kopf. »Aber es sei ihm gegönnt. Hast du denn das Dorf schon gesehen?«
»Nein, ich bin von Holland hierhergekommen. Heute Nachmittag habe ich den Zug von Den Haag nach Enschede genommen, und dann bin ich mit dem Bus weitergefahren. Von Vennhues habe ich noch nicht allzu viel gesehen.«
»Wir werden es uns morgen in Ruhe anschauen«, sagte der Vater. »Du wirst es nicht wiedererkennen. Ich kenne kaum noch die Hälfte der Leute persönlich, die heute hier wohnen. Vennhues ist zu einer Schlafstadt geworden, und die Menschen arbeiten in Münster und in Enschede. Hier bauen sie sich ihr Häuschen und wollen ihre Ruhe. Im Ort ist es inzwischen so anonym wie in einer Stadt. Die neue Bundesstraße hast du bestimmt schon gesehen. Damit ist man nun ganz schnell überall, und man muss nicht mehr im Dorf leben und hier arbeiten.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Von den Vennhuesern sind ohnehin nur noch die Alten da. Du solltest mal am Sonntag in die Kirche gehen. Lauter halbleere Reihen. Es ist wirklich eine Schande.«
Einem Impuls folgend wollte Peter nach seinen Geschwistern fragen, doch dann überlegte er es sich anders. Margret war damals nach Freiburg gegangen, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Seine Brüder hatte es noch weiter fortgezogen. Sie waren in die Vereinigten Staaten gegangen, und von ihnen hatte er seit Ewigkeiten nichts mehr gehört. Keines der Geschwister war in Vennhues geblieben. Es war, als läge ein Fluch auf der Familie, der sie alle fortgetrieben hatte.
»Wenn wir morgen in das Dorf gehen«, sagte sein Vater, »dann zeige ich dir das Grab deiner Mutter. Du willst es sicherlich einmal besuchen.«
Werner Bodenstein hatte diesen Satz ganz leicht dahingesagt, und doch schnürte es Peter die Kehle zu. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Am Tag ihrer Beerdigung war er am anderen Ende der Welt gewesen. Er hatte bei stiller See auf dem Freideck der Brochnow gesessen und sich mit Whiskey volllaufen lassen. Sie saßen damals für einige Tage im Südpazifik fest, weil sie einen Taifun im Norden abwarten mussten. Es hatte nichts zu tun gegeben, und so hatte er in der Sonne gesessen und sein Schicksal verflucht für alles, was geschehen war. Er hatte es sich nicht verziehen, fortgeblieben zu
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