Das Geheimnis von Vennhues
herbstliche Kühle in der Diele wieder bemerkbar machte, gingen sie hinauf, um sich schlafen zu legen.
Auf dem Weg in die Kammer, in der sein Vater das Bett für ihn bezogen hatte, fragte er sich erneut, wie das Dorf auf seine Ankunft reagieren würde. Er rechnete damit, dass alte Wunden aufgerissen werden würden und alte Feindschaften erneut erwachten. Doch das war ihm egal. Es waren dreiundzwanzig Jahre vergangen, und in dieser Zeit hatte er viel über die Menschen gelernt. Er war nicht mehr der Junge von damals, und ein weiteres Mal würde er sich nicht vertreiben lassen. In zwei Monaten, am 28. Dezember, würde er sich in Dünkirchen einschiffen. Bis dahin wollte er in Vennhues bleiben. Das hatte er sich fest vorgenommen.
Dieses Mal würde er damit fertig werden, ganz egal, was passierte.
2
Es war nicht ungefährlich, nachts mit dem Fahrrad über die Schnellstraße zu fahren. Doch es war der einzige Weg, der zurück ins Dorf führte. Josef Kemper wusste wie jeder hier, dass die Autos oftmals mit mehr als hundert Stundenkilometern übers Land jagten. Ein einsamer Radfahrer konnte da leicht übersehen werden. Doch in dieser Nacht schien niemand mehr unterwegs zu sein.
Kemper hatte sich mit Nachbarn zum Kartenspielen getroffen. Seitdem die letzte Kneipe im Dorf geschlossen war, trafen sie sich reihum in der Nachbarschaft, und der jeweilige Gastgeber stellte einen Kasten Bier und eine Flasche Schnaps auf den Tisch. An diesem Abend hatten sie sich bei Schulze-Huesmann getroffen, dem letzten Hof vor der Grenze, und so musste er über die Schnellstraße zurück.
Es ist eine Schande, dachte Josef Kemper. Früher gab es vier Kneipen in Vennhues, und jeder Wirt hatte genügend Gäste. Heute gab es nur noch Hermann Esking, der die älteste Kneipe im Dorf besaß, direkt neben der Kirche. Zwar hatte auch er vor langer Zeit zugemacht, doch wenigstens am Sonntagvormittag nach dem Hochamt öffnete der Wirt für zwei oder drei Stunden seine Türen, damit die Männer aus dem Dorf ihren Frühschoppen abhalten konnten.
Ein nahendes Dröhnen durchschnitt die nächtliche Stille. Der schwenkende Lichtkegel eines Autos tastete hektisch über Graben und Böschung. Da Kempers Fahrradlicht defekt war, fuhr er an den Straßenrand und stieg ab, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch es war schon zu spät. Der Wagen donnerte in gewaltigem Tempo an ihm vorbei. Das Rad wurde vom Fahrtwind erfasst und fiel in den Straßengraben. Kemper ließ sich auf die Knie sinken und klammerte sich an der Böschung fest. Die Fenster des Wagens waren heruntergekurbelt, und ein paar Jugendliche johlten in die Nacht hinaus.
Mit einem Satz war er wieder auf der Straße und hob drohend die Faust, doch natürlich hatten sie von alldem nichts bemerkt.
Verfluchte Blagen!, dachte er. Bestimmt sind sie auf dem Weg nach Enschede, um Marihuana zu rauchen. Diese Nichtsnutze, diese verdammten! In seiner Jugend wurde unter der Woche noch gearbeitet, da hatte man gar keine Zeit für solch einen Unsinn.
Es geht immer weiter bergab mit Vennhues, dachte er. Erst kamen die Fremden, dann machten die Läden und die Kneipen dicht, weil alle Welt zu den Einkaufszentren fuhr. Die Jugend hatte nur noch Alkohol und Drogen im Kopf, und zu guter Letzt konnte ein alter Bauer wie er nicht einmal mehr gefahrlos mit dem Rad über die nächtliche Straße fahren.
Mit finsterer Miene blickte er dem Wagen nach. Er war fast hinter einer Kurve verschwunden, als er in dem schwenkenden Lichtkegel etwas zu bemerken glaubte. Es war ein Schatten oder eine Bewegung, weit hinten an der Wallhecke von Bauer Trostdorfs Acker.
Josef Kemper fixierte den Acker auf der anderen Straßenseite. Seine Augen gewöhnten sich wieder an die Dunkelheit, und da hob sich ein Schatten von der Umgebung ab. Er war ganz sicher. Dort huschte jemand an der Hecke entlang.
Konnte das Hubert Trostdorf sein?, fragte er sich. Weshalb aber sollte der um diese Uhrzeit zu seinem Acker gehen? Die Gerste war längst abgeerntet und das Feld für den Winter vorbereitet. Es lag nun brach und würde erst im nächsten Frühjahr wieder neu bestellt werden.
Der Schatten ging weiter bis zu einer Böschung und kletterte dort über den Zaun. Kurz darauf war er verschwunden.
Damals in seiner Kindheit waren nächtliche Wanderer nichts Seltenes gewesen. Auch Josef Kempers Vater hatte zu ihnen gehört. Sie waren auf Schleichwegen über die Grenze gelangt, um alle denkbaren Waren nach Holland und zurück zu schmuggeln. Doch das war
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