Das Gewicht der Liebe
Zeitspanne nach dem Abendessen, in der es ihr erlaubt war, fernzusehen. Mommy mochte es nicht, wenn Roxanne zu nah bei ihr saß, aber das Verlangen, sich an die Schulter ihrer Mutter zu lehnen, ihren Körper an ihre Hüfte zu schmiegen, war so stark, dass Roxannes Haut zu prickeln begann. Es fühlte sich genauso an, wie wenn sie vor dem Herd stand und – ohne die Platte zu berühren – wusste, dass diese heiß war. Im Fernsehen hatte sie Mütter und Töchter gesehen, die einander umarmten und küssten. Sollte sie das glauben oder war Fernsehen dasselbe wie ein Märchen, eine erfundene Geschichte, nicht anders als die Vorstellung von Kindern mit indianischen Nickelköpfen?
Es gab so vieles, das Roxanne nicht wusste.
Mrs. Edison backte Pasteten und Kuchen, um zusätzlich etwas Geld zu verdienen, und sie hatte Roxanne beigebracht, die Rezepte zu lesen. Roxanne liebte Backen, denn wenn Mrs. Edison die Anweisungen, die Roxanne ihr vorlas, genau befolgte, wurden die Süßspeisen perfekt. Doch das Leben war nicht wie Kuchen und Pasteten. Selbst wenn sie sich an alle Vorschriften hielt, hatte sie trotzdem oft Angst, wenn sie Mommy und Daddy nachts reden und lachen und streiten hörte. Obwohl Roxanne sich die Decke über den Kopf zog und ein Zelt schuf, das von ihrem eigenen vertrauten Atem erfüllt war, und obwohl die Worte der Eltern zu schnell aufeinander folgten, um sie verstehen zu können, vibrierte die Dunkelheit doch von dem zornig-frohen Stimmengewirr. Roxanne dachte an die obdachlose Frau mit der roten Wollmütze und fragte sich, ob sie jemals in der ersten Klasse gewesen war.
Roxanne und ihre Mutter wohnten in einer Straße, in der bis spätnachts der Verkehr lärmte. In ihrem Block gab es zwei Bars. Eine hatte einen Namen, den Roxanne nicht lesen konnte, weil er spanisch war. Wenn sie abends im Bett war, ließ Mommy sie oft allein und ging über die Straße zu der anderen Bar, das Royal Flush. Und wenn Daddy mal für ein paar Tage nach Hause kam, verdiente er dort mit Poolbillardspielen Geld.
Roxanne versuchte sich zu erinnern, wann sie ihren Daddy das letzte Mal gesehen hatte. Sie entsann sich, ihre Mutter gefragt zu haben, wo er sei, doch sie hatte die Ant wort vergessen. Sie durchforstete ihr Gedächtnis nach Din gen, die sie vergessen oder falsch gemacht hatte und die erklären würden, warum Daddy nicht zu Hause war und Mommy sie zwang, bei einer Großmutter zu leben, die sie noch nie gesehen und von der sie bis heute noch nicht ein mal etwas gehört hatte. Sie redete zu Hause nicht zu viel, im Supermarkt quengelte sie nicht wegen Süßigkeiten herum, und sie stellte höchstens halb so viele Fragen, wie sie im Kopf hatte. Auch ihre Pflichten im Haushalt vergaß sie so gut wie nie. Es machte ihr sogar Spaß, die Küche nach dem Abendessen ordentlich aufzuräumen, und morgens brachte sie ihr Bett in Ordnung und fegte den Boden, bevor sie zu Mrs. Edison ging. Es erfüllte sie mit einem Gefühl von Sicherheit, wenn alle Pflichten erledigt waren.
Im Auto fragte sie am nächsten Tag: »Sind wir bald da?«
»Wir sind noch nicht einmal in Bakersfield.«
Bakersfield – Bäckerfeld . Roxanne stellte sich ein Feld voller Mrs. Edisons vor, die alle Pastetenteig ausrollten und Kuchen backten.
»Wie lange dauert es, bis wir in Bakersfield sind?«
»Schluss mit den Fragen, Roxanne. Sonst setze ich dich am Straßenrand aus, das schwöre ich.«
Aus dem Autofenster sah sie einen traurigen Teil der Welt, heruntergekommene Gebäude und verwahrloste, un bebaute Grundstücke, kaputte Zäune, kaum Bäume, nur Sträucher, die aussahen wie eingetrocknete Spinnen, und Papierabfall, Fast-Food-Verpackungen und Plastikkaffee becher, die vom staubigen Straßenrand hochgewirbelt wur den, wenn Autos und Trucks vorbeirauschten. Wie würde sie hier draußen leben?
Ein trockener Wind blies Splitt in den Wagen, und Roxannes Haare flogen nach oben und flatterten ihr in verfilzten Strähnen, die an ihrer Kopfhaut rissen, ins Gesicht. Sie hob das silberne Windrad hoch und sah zu, wie es sich flirrend drehte. Sie dachte an die nette Mrs. Eno und fragte sich, ob sie sich in ihrer ersten Klasse umse hen und sich Sorgen machen würde, weil keine Roxanne da war.
Der geliehene Buick hatte eine glänzende Karosserie und sah fast neu aus, doch die Klimaanlage funktionierte nicht. Als Mommy das merkte, stieß sie einen Haufen schlechter Wörter hervor, die zu benutzen Roxanne verbo ten waren und deren Bedeutung sie sowieso nicht verstand. In
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