Das Gewicht der Liebe
der Hitze klebten Roxannes nackte Beine am Autositz. Schon jetzt war ihr klar, dass sie in Daneville unglücklich sein würde. Sie stellte sich ihre Großmutter mit einer riesigen Nase vor, die nach unten gekrümmt war und fast das Kinn berührte.
»Ich will nicht allein bei ihr bleiben.«
»Ich habe einen Job, Roxanne. Mr. Brickman braucht mich.«
Mr. Brickman, der Geschäftsführer, rief Mommy ständig an, und manchmal fuhr er sie abends zu Sitzungen, auf denen wichtige geschäftliche Dinge besprochen wurden. Sie zog sich für ihre Arbeit als seine Sekretärin schick an und war immer aufgeregt, wenn ein neuer Arbeitstag begann. Aber bis zum Nachmittag, wenn sie Roxanne von Mrs. Edison abholte, hatte sich ihre Stimmung deutlich verschlechtert, und sie konnte es kaum erwarten, sich ein Bier aufzumachen, sich auf das Sofa fallen zu lassen und fernzusehen.
»Was ist mit meinen Spielsachen?« In ihrem rosa Rucksack war nicht viel Platz gewesen. »Und mit meinen Büchern?«
»Deine Großmutter hat ein ganzes Zimmer voller Bücher.«
Das war die erste gute Nachricht, die Roxanne hörte.
»Was für Bücher?«
»Bücher, Bücher! Woher soll ich das wissen?«
Roxanne hatte ihre Mutter nur beim Lesen von Zeitschriften und manchmal der Tageszeitung gesehen. »Du magst keine Bücher.«
»Ich mag jedenfalls nicht, wenn man mir sagt, ich muss sie lesen, weil ich sonst dumm bleibe.«
»Du bist nicht dumm, Mommy.«
»Na, vielen Dank.« Ihre Mutter sah sie so lange an, dass Roxanne schon fürchtete, sie würde einen Unfall bauen. »Manchmal bin ich mir da nicht so sicher.«
Mommy sagte: »Halt Ausschau nach Schildern nach Visalia.«
»Fahren wir dorthin? Fahren wir nach Visalia?«
»Herrgott, Rox. Ich habe dir doch gesagt, dass wir nach Daneville fahren. Die Abzweigung ist in der Nähe von Visalia.«
Mommy drückte das Gaspedal durch und überholte einen Truck, der von einem Mann mit einem weißen Stroh hut gefahren wurde. Roxanne lächelte ihm zu und winkte mit ihrem silbernen Windrad, und er winkte zurück.
Sie riskierte eine weitere Frage.
»Wieso magst du sie eigentlich nicht?«
»Hab ich das behauptet?«
»Ist sie deine Mutter?«
»Nein. Sie ist Jackie Kennedys Mutter. Was glaubst du denn, Roxanne? Herrgott noch mal!«
Mommy murmelte noch irgendetwas anderes. Roxanne sah, wie sich ihre Lippen bewegten, doch die einzigen Laute, die sie vernahm, waren Klicklaute und Schnauben. Im Winter hatte Roxanne eine Ohrentzündung gehabt, und seitdem hörte sie mit dem linken Ohr nicht mehr sehr gut.
Mommy riss das Lenkrad herum und bog in eine Ausfahrt ab.
»Ist das Visalia?«
»Wenn ich nicht bald eine Coke kriege, falle ich tot um.«
Vier Autos warteten am Ausgabefenster des Drive-in-Restaurants Jack in the Box. Vier plus der Buick ergaben fünf. Roxanne rechnete das aus, ohne ihre Finger zu Hilfe zu nehmen. Zusammenzählen und Abziehen war einfach, wenn die Zahlen nicht zu hoch waren, aber Sorge bereitete ihr die Multiplikation. Allein das Wort war schwierig auszusprechen.
»Was ist mit der Schule?«
»Oh, glaub mir, die alte Dame wird dich in die Schule stecken. Sie legt großen Wert auf Schule.«
Die Worte hörten sich gut an, doch Mommys Ton verhieß etwas anderes.
»Weiß Daddy, dass ich zu Granny gehe?«
Mommys Gesicht wurde plötzlich dunkelrot. »Findest du das etwa witzig?«
»Was ist witzig?«
»Er ist tot, Roxanne. Schon vergessen? Du scheinst ein Loch im Kopf zu haben.«
Sie wollte sich nicht daran erinnern, wie Mommy ge weint hatte, wie sie Pfannen und Töpfe gegen die Wand geknallt und gekreischt hatte: Was, zum Teufel, soll ich jetzt tun? Später war Mrs. Edison vorbeigekommen, und Mommy und sie hatten Whisky getrunken. Mrs. Edison hatte gesagt: »Sie verlassen uns immer. Auf die eine oder andere Weise.«
»Wie ist er gestorben?«
»Er war Soldat. Soldaten sterben.« Ellen nahm die rech te Hand vom Lenkrad, griff hinter ihren Kopf und hob ihr langes Haar im Nacken hoch. »Bei Judas und allen Verrätern, ich hasse dieses beschissene Tal!«
Roxanne starrte auf das schimmernde Autoradio und las den Namen, der auf dem oberen Rand stand: MOTO ROLA . In Büchern und im Fernsehen gab es, wenn der Vater eines Mädchens starb, eine Bestattungsfeier und jede Menge zu essen, und das Mädchen weinte und alle waren nett zu ihm. Aber soweit Roxanne wusste, war nichts dergleichen geschehen.
»Hatte Daddy eine Bestattungsfeier?«
»Ich möchte nicht darüber reden. Vergiss es einfach.«
Roxanne zog
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