- Das Haus der kalten Herzen
öffnete und schloss sich, als ob sie redete, aber Mercy konnte nicht hören, was sie sagte.
»Claudius hat mich geschickt«, sagte Mercy. »Du sollst mir etwas erzählen. Du musst es erklären.«
Wieder bewegte sich der Mund des Geistes, aber die Wörter blieben unter dem Eis stecken.
»Ich kann dich nicht hören«, sagte Mercy und schlug mit der Faust auf das Eis. »Vielleicht habe ich nur diese Chance.«
Jetzt sah der Geist traurig aus. In den hohlen Augen spiegelte sich etwas, ein meerblaues Blitzen, ein Funken Leben, der sich entfachte. Dann strömte der Geist davon, das Gesicht verschwand, das weiße Kleid wallte in der Unterströmung. So glitt sie über den Teich.
»Geh nicht fort!«, rief Mercy. »Geh noch nicht. Du musst mir helfen.«
Der Geist hörte nicht auf sie. Auch das bauschende Kleid verblasste, und der Teich lag reglos da. Nachdem sie all ihren Mut zusammengerafft hatte, um den Geist anzusprechen, war die Enttäuschung niederschmetternd. Mercy hatte keine Ahnung, wer die junge Frau war. Warum spukte sie im Teich herum? War sie ertrunken? Als sie sich das kalte Wasser vorstellte und die eisige Decke, die es versiegelte, erschauderte Mercy. Vielleicht würde Claudius ihr den Namen des Mädchens im Teich verraten.
Mercy stand auf, die gefühlsgeladene Anspannung fiel von ihr ab. Auf einmal schien sie überhaupt keine Energie mehr zu haben. Die Kälte kroch ihr in die Finger. Sie dachte an den langen Heimweg. Vielleicht haben sie ja gar nicht bemerkt, dass ich weg war, dachte sie. Das war eine vergebliche Hoffnung.
Da bemerkte sie ein Glitzern am gefrorenen Saum des Teiches. Neugierig ging sie am Ufer entlang und schaute durch das milchige Eis. Sie zog die Handschuhe aus und rieb die Oberfläche mit ihren Fingern, denn sie wollte sehen, was dort lag. Da, unter dem Eis, ein silbriger Glanz. Mercy hämmerte auf den Teich ein, aber das Eis war dick und widerspenstig. Also trampelte sie darauf herum, ganz fest, mit dem Absatz ihres Stiefels. Mit einem Knall wie ein Pistolenschuss barst das Eis. Noch einmal trat sie zu und brach ins seichte Wasser am Ufer durch. Sofort lief ihr Stiefel mit eiskaltem Wasser voll. Mercy bohrte ihre Hand ins Wasser und schürfte sich die Finger an den scharfen Kanten der Eisdecke auf. Schlamm wirbelte hoch und trübte das Wasser.
Drei rostige Schlüssel an einem Ring. Triumphierend zog Mercy sie aus dem Wasser. Einer war größer als die anderen, vielleicht war es der Schlüssel zu einer Tür. Mercy lächelte.
»Danke«, sagte sie laut zu dem Geist. »Vielen Dank.«
Dann verstaute sie die Schlüssel in einer Tasche unter ihrem Mantel. Sie würde Ärger bekommen, aber nun hatte es sich wenigstens gelohnt.
Mit Gewittermiene erwartete Galatea sie. Die Gouvernante konnte sich kaum dazu überwinden, das Wort an ihren Schützling zu richten. Mit einer einzigen Kerze in der Hand führte sie Mercy durchs Haus, weit weg von der Küche und den vertrauten Räumen, in denen Mercy und Charity ihre ungezählten Tage verbrachten. Sie gingen modrig riechende Korridore entlang, deren Existenz Mercy vergessen hatte, traten durch Türen in Räume, die sie früher vielleicht einmal aufgesucht hatte … vor langer Zeit. Gemälde mit Landschaften und Porträts tauchten auf, an die sie sich schwach erinnerte. Mercy war beklommen zu Mute, aber die plötzliche Verzweiflung, die sie am Teichufer überkommen hatte, war wie weggeweht. Die Schlüssel waren eine Hoffnung, an die sie sich klammerte.
Galatea öffnete eine Tür in einer holzvertäfelten Wand und sie betraten einen Salon mit einem mit Spinnweben behangenen Kronleuchter.
Mercy blieb ein wenig zurück und starrte die grauen Fetzen und den trüben Glanz der Glastropfen im Kerzenschein an.
»Komm schon«, schalt sie Galatea. Sie zog einen Vorhang zurück und öffnete eine weitere Tür.
Mercy schaute auf. In ihrem Gedächtnis regte sich etwas. Sie hatte eine blasse Erinnerung an diesen Ort. Wohin führte diese Tür? Ein Bild blitzte in ihrem Kopf auf, ein gläsernes Dach, ein Dschungel aus smaragdenen Blättern. Natürlich! Das große Gewächshaus, das einst Trajans Stolz und Freude gewesen war.
»Mercy!«, rief Galatea in scharfem Ton.
Mercy trottete hinter der strengen, ordentlichen Gestalt der Gouvernante her, die den Vorhang beiseitehielt, um Mercy hindurchzulassen. Dann ließ Galatea sie allein.
Das Gewächshaus lag vor ihr. Das Licht war sehr hell, der Mond schien wie eine Fackel. Das Gewächshaus erstreckte sich über
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